Bad Ischls „Wiener Blut“ spielt in einer verrückten Welt

Grandiose Sänger irritieren als ewig lebende „Wurschtln“

Gerd Vogel, Thomas Blondelle, Sieglinde Feldhofer und Ensemble
Gerd Vogel, Thomas Blondelle, Sieglinde Feldhofer und Ensemble © www.fotohofer.at

Man darf staunen. Thomas Enzinger, Regie führender Erfolgsintendant des Bad Ischler Lehár Festivals, erzählte anlässlich der Saisoneröffnung mit Johann Strauss‘ Melodienreigen „Wiener Blut“ — zusammengestellt von Adolf Müller jun. — als einer der Eröffnungsreder auch Folgendes: Den Wiener Wurschtl und die musikalische Spezies der Operette könne niemand „derschlagn“.

Wir alle wissen, dass wir derzeit weltweit in einer seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie da gewesenen verrückten Welt leben. Der Gedankengang Enzingers mag stimmen, seine Inszenierung allerdings verstärkt nicht die Intentionen der beiden Komponisten Johann Strauss und Adolf Müller jun. anno 1899 und schon gar nicht jene der genialen Librettisten Victor Léon und Leo Stein, deren Werk eigentlich auch in Zeiten wie diesen die Spezies „Wiener Operette“ repräsentieren sollte.

Die gegenständliche Werk-Fassung pendelt zwischen Wiener Kongress und unbestimmten Zeitphasen, die sich historisch gegenüberstehen. Das Bühnenbild von Toto und die Kostüme von Sven Bindseil zeigen auf der Vorbühne Johann und Adele Strauss mit zwei „Vögeln Strauss“, da wir uns nicht nur am Wiener Kongress, sondern im zweiten Akt auf einem Ball der Psychoanalytiker befinden, hängen mehrfach Gehirne in der Luft.

Zu allem Überfluss befinden sich, dramaturgisch widersinnig, der goldene Johann Strauss und Sigmund Freud auf der Bühne, wo sich im Hause des Grafen Zedlau, am Ballfest turbulente Szenen mit zahlreichen Geschmacklosigkeiten abspielen. Hässliche Karikaturen von Frauenköpfen gehören mit dazu. Eigentlich müsste sich Johann Strauss wehren, aber er erzählt seine Sorgen wohl seinem Spezi Sigmund Freud …

Orchester, Chor und Solisten als Rettung

Natürlich retten das Franz Lehár Orchester und der Chor des Festivals gemeinsam mit den großteils unübertrefflichen Solisten unter dem temperamentgeladenen Kapellmeister Laszlo Gyüker den Abend. Die Akteure müssen verrückte Bewegungen und Gesten sowie choreografische Akrobatik bewältigen, die ihnen Evamaria Mayer mit viel Liebe zu Hektik und grenzwertigen Bewegungsabläufen auferlegte.

Hier sind sie, die Stars des Abends: Das Damen-Trio Sieglinde Feldhofer (Gabriele), Martina Fender (Cagliari) und Marie-Louise Schottleitner (Pepi) ist tatsächlich unübertrefflich! Thomas Blondelle muss sich erst langsam an das Tempo gewöhnen, ehe er als attraktiver Grad Zedlau im zweiten Akt tenoral aufblüht.

Musical-Star Reinwald Kranner schafft den Sprung ins Buffo-Fach der Operette scheinbar mühelos: Sein Josef passt haargenau ins Regie-Konzept. Josef Forstner könnte bei weniger Tempo ein hervorragender Kagler sein. Nabeel Fareed als Johann Strauss und Matthias Schuppli als Sigmund Freud sind persönlichkeitsstark, doch höchst überflüssig.

Dem Zeitgeist zum Opfer gefallen

Eine der volkstümlichsten Wiener Operetten fiel dem Zeitgeist zum Opfer. Hingehen und anschauen ist eine Selbstverständlichkeit, zumal wir uns an einem Punkt befinden, an dem sich Künstler und Publikum entscheiden müssen, wie wir in verrückten Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs mit der Rezeption unseres heimischen Kulturgutes umgehen wollen.

2023 werden beim Lehar Festival Bad Ischl Leo Falls „Madame Pompadour“, Carl Zellers „Der Vogelhändler“ und Franz Lehárs „Schön ist die Welt“ geboten.

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