Wettlesen um Bachmann-Preis zu Ende, nun ist die Jury am Zug

Johanna Sebauer las über „Das Gurkerl“ © APA/Elke Huber-Lang

Mit einer ganzen Riege an Preiskandidatinnen und -kandidaten geht das Wettlesen um den 48. Bachmann-Preis in das morgige Finale. Die Österreicherin Johanna Sebauer, die in Wien lebende Slowenin Tamara Štajner sowie Miedya Mahmod aus Deutschland lasen sich am Samstag in den Favoritenkreis, wo sich seit den Vortagen die Schweizerin Sarah Elena Müller, der in Sarajevo geborene Deutsche Tijan Sila, der finnisch-britische Autor Henrik Szántó und der Deutsche Denis Pfabe befanden.

Eröffnet wurde der letzte Lesetag durch den in Berlin lebenden Schweizer Semi Eschamp mit seinem Text „Ist Realität selbst da, wo sie nicht hingehört?“ Darin hat ein Buch ein Eigenleben, ächzt, probiert zu fliegen oder seine Seiten zusammenzupressen, damit es nicht gelesen werden kann. Ein Kunde namens René Maria Petersen und die Buchhändlerin Maria Petra Renévski versuchen, damit möglichst selbstverständlich umzugehen. Der in mehrere Abschnitte gegliederte Text birgt aber auch weitere Überraschungen, etwa die Angst auf Urlaub, einen Traum, der beim Aufwachen abgestreift und sorgsam zusammengelegt wird, oder eine aufgeregt zappelnde Zeitung. Am Ende bucht Petersen eine per Anzeige angebotene „Reise in die Realität“.

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„Eine spekulative Bewegung, die von einem Begriff zum nächsten geht“, sah Philipp Tingler und fand das „mal mehr, mal weniger gelungen“. Insgesamt habe er „einen zwiespältigen Eindruck“, ein Urteil, dem auch Mithu Sanyal, Klaus Kastberger und Thomas Strässle beipflichten konnten: „Ein klassischer fantastischer Text“, so Strässle, der aber auch „komische Wendungen“ in ihm fand. Laura de Weck, die den Text eingeladen hatte, empfahl eine Lektüre wie bei einem Museumsrundgang. Dazu hatten ihre Jury-Kollegen und -Kolleginnen jedoch mehrheitlich keine Lust.

Johanna Sebauer hatte schon in ihrem Porträt-Video auf ihr Thema aufmerksam gemacht und auch ein Gurkenglas für das Lesepult mitgebracht. „Das Gurkerl“ führt mitten in die Medienwelt und in das Sommerloch, das ein Journalist, dem bei der Jause Essigwasser eines Gewürzgurkenglases in die Augen kommt, mit einem medialen Feldzug gegen die eingelegte Gurke füllt. Heutige Mechanismen einer künstlich geschürten Aufregung werden dabei auf satirische Weise deutlich gemacht.

„Ein wahnsinnig gut geschriebener Text!“, begeisterte sich Mithu Sanyal. Es sei „ein hochriskantes Unterfangen hier mit einem Text anzutreten, der so auf Humor und Effekt getrimmt ist“, fand Mara Delius. Das Risiko habe sich gelohnt, denn Sebauer habe „einen brillanten und hochkomischen Text“ vorgelegt, „extrem elegant, extrem geschickt komponiert“. Auch Strässle war eingenommen und lobte vor allem die Austriazismen, die eine Beschimpfungsvirtuosität erkennen ließen. Auch Tingler fand die Geschichte „überaus gelungen und die sprachliche Gestaltung überaus gekonnt“. „Der Text ist ganz deutlich!“, sagte Brigitte Schwens-Harrant – und meinte das positiv, denn Satire müsse deutlich sein. Kastberger, der „Das Gurkerl“ eingeladen hatte, hatte sich schon mit seinem gewählten Outfit als Fan geoutet: Sein T-Shirt wurde von einem gezeichneten Gurkerl geschmückt. Auch das Publikum fand „Das Gurkerl“ so bekömmlich, dass Sebauer sich auch Chancen auf den morgen vergebenen Publikumspreis ausrechnen darf.

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Miedya Mahmod, Spoken-Word-Artist aus dem Ruhrpott mit irakischen Wurzeln, eröffnete mit „Es schlechter ausdrücken wollen. Oder: Ba, Da.“ den Nachmittag – ein hoch artifizieller Text, der räumlich oft in der Küche und am Kühlschrank und thematisch vor allem in der Sprache verankert ist. Es geht um Neugewinnung einer Souveränität des Ausdrucks und Findung einer Identität – zwischen „duzemane: zweisprachig“, „duzemani: Doppelzüngigkeit“ und „duregez: zweigeschlechtlich“.

„Sehr experimentelle Prosa“ und „ein Text, der bis auf die Ebene der Grammatik die Sprache knetet“, fand Mithu Sanyal, die Mahmod eingeladen hatte, und lobte die „intrinsische Polyphonie“ des Textes. „Die Partitur einer Text-Performance“ sah Strässle in dem Text, in dem es etwa mit der Sprache im Vordergrund um Sprachlosigkeit, Sprachkritik, Migration und Ängste gehe. „Ein Text, der in den Raum gehört, auf dem Papier ist er schwieriger“, meinte Laura de Weck und lobte wie Schwens-Harrant und Kastberger (nicht nur) den fulminanten Vortrag. „Ich frage mich dennoch, was es über den Text sagt, dass er im Vortrag so prägnanter ist“, brachte Mara Delius einen Einwand. „Ästhetisierungsüberdehnungen“ ortete Tingler und zeigte sich misstrauisch gegen die „kuratorische Einbettung“, die der Text offenbar nötig habe.

Als Letzte des Feldes las die in Wien lebende slowenische Musikerin und Autorin Tamara Štajner. „Luft nach unten“ ist eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit der Mutter und der Familiengeschichte, in der Štajner auch ein paar Liedzeilen aus Disneys „Aschenputtel“-Film und das Geräusch eines MRT eingebaut hatte – und beides mit perfekter Stimme vortrug. Wie persönlich dieser Text ist, erwies sich kurz vor dem Ende, als die Autorin bei einer Passage über ihre Mutter mehrmals ihre Tränen unterdrücken musste.

„Ein hochkomplexer, extrem dringlicher Brief an die Mutter“, meinte Mara Delius. „Auf metaphorischer Ebene sehr gut gearbeitet“, fand Strässle den Text. Lob gab es von Tingler, de Weck, Schwens-Harrant und Sanyal. Kastberger fand den Titel großartig und sich an den Text von Tijan Sila erinnert, wobei dieser mit Distanzierung, Štajner aber mit Emotion arbeite. Beide zeigten aber: „Literatur ist immer Hoffnung!“

Nun muss die siebenköpfige Jury zu einem Urteil kommen. Morgen um 11 Uhr gehen dann die 48. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt mit der Preisverleihung zu Ende.

bachmannpreis.orf.at

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