ImPulsTanz: Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ in Bewegt-Bildern

De Keersmaekers jüngste Arbeit bereitet mitunter etwas Kopfzerbrechen © APA/ImPulsTanz/Anne Van Aerschot

Vier Männer tanzen „Die vier Jahreszeiten“: Antonio Vivaldis Klassikhit hat die belgische Starchoreografin Anne Teresa De Keersmaeker als Ausgangspunkt für ihre jüngste Produktion „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“ genommen. Das ImPulsTanz-Publikum erlebte am Montagabend ein stilistisch überbordendes Stück über die Beziehung von Mensch und Natur, das sich streckenweise etwas zu verlieren schien. Trotzdem großer Jubel.

Wirklich unvoreingenommen konnte man sich auf diese Arbeit, die erst im Mai ihre Uraufführung in Brüssel feierte und im Volkstheater nun erstmals in Österreich zu sehen war, kaum einlassen. Erst vor wenigen Wochen waren Vorwürfe gegen De Keersmaeker aus ihrer eigenen Compagnie Rosas laut geworden. Mitglieder beklagten etwa erzwungene Auftritte erkrankter Tänzerinnen und Tänzer, erniedrigende Kommentare und einen autoritärer Führungsstil. Auf der Rosas-Homepage wurden Maßnahmen angekündigt, Festivalintendant Karl Regensburger hielt nicht zuletzt deshalb am Wien-Gastspiel De Keersmaekers – sie gehört seit vielen Jahren gewissermaßen zum ImPulsTanz-Stammpersonal – fest.

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Die 64-jährige Ikone selbst steht bei „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“ („Der Wettstreit zwischen Harmonie und Erfindung“) – der Titel bezieht sich auf Vivaldis 1725 veröffentlichte gleichnamige Sammlung von zwölf Violinkonzerten, von denen die ersten vier den berühmten „Jahreszeiten“-Zyklus bilden – ohnehin nicht auf der Bühne. Diese gehört allein den vier in Freizeitshorts und Netzleiberl und -umhänge gewandeten Tänzern Boštjan Antončič, Nassim Baddag, Lav Crnčević und José Paulo dos Santos.

Das Stück beginnt in Stille und Dunkelheit. Nach und nach beginnen immer mehr der im Hintergrund der ansonsten leeren Bühne angebrachten Neonlichtröhren aufzuflackern, sie scheinen eine Art Rhythmus und Tonfolge vorwegzunehmen. Dann folgt ein Solo, später kommt der Rest des Quartetts dazu. Man hört nur das Quietschen der Fußsohlen auf dem Boden, das Schnaufen der Tänzer, es wird gestampft, geschnippt, gezwitschert, galoppiert, gewälzt, gezittert. Es ist der im Herbst und Winter verortete Vorspann auf den eigentlichen vollen Jahreskreis.

Bis die Musik tatsächlich einsetzt, dauert es eine lange halbe Stunde. Wie zwei der vier Tänzer mit einer Art Steppduett schließlich zu Vivaldis bekanntem Motiv des „Frühling“ hinführen bzw. es imitieren und somit in den Köpfen der Zuschauer schon erklingen lassen, bevor die Violinen tatsächlich einsetzen, gehört allerdings zu den Höhepunkten dieses 90-minütigen Abends.

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Danach folgen chronologisch die übrigen Jahreszeiten. Dabei passen sich die von De Keersmaeker und ihrem marokkanischen Co-Choreografen Radouan Mriziga – die beiden arbeiteten bereits für eine Performance 2020 zusammen – ersonnenen Bewegungen immer wieder der Natur und ihrer Wirkkraft auf den (bäuerlichen) Menschen an. Im „Frühling“ werden Gesten des Säens angedeutet, im „Sommer“ scheinen die Mäher unter der Hitze zu leiden und müssen Gelsen vertreiben, der „Herbst“ ist die Zeit der Jagd und der Feste. Hier wird geschossen, getorkelt, es kommt zu Handgreiflichkeiten. Im „Winter“ wärmen sich die Männer an einem imaginären Feuer und gleiten vor einer nun aufgezogenen weißen Wand, die die Schneelandschaft andeutet, auf Schlittschuhen übers Eis.

Das Stück besteht aber nicht nur aus konkret-gestischen Elementen. Viel Raum haben abstrakte Bewegungsabläufe, die vom synchronen Beschreiten einer Endlosschleife über ausladende Drehungen und Wirbel bis hin zu modernen Breakdance-Figuren reichen. Volksriten, Allegorien auf einzelne Naturelemente oder Verhaltensweisen von Tieren werden angedeutet.

Vivaldis Komposition – De Keersmaeker und Mriziga greifen auf eine 2015 eingespielte Aufnahme der Geigerin Amandine Beyer und ihres Ensembles Gli Incogniti als langjährige Rosas-Partner zurück – wird immer wieder durch stille Passagen unterbrochen. Am Ende steht ein extra in Auftrag gegebenes und in weiblich-verfremdeter Stimme vorgetragenes Gedicht von Asmaa Jama, das „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“ noch die Lesart als Statement zum Klimawandel und dem dadurch drohenden Ende der Jahreszeiten, wie wir sie kennen, überstülpt.

Die Vielzahl an Stilfiguren von Ballett bis Ausdruckstanz, das ständige Nebeneinander von Synchronizität und Soloausbrüchen, das Überangebot an Interpretationsmöglichkeiten verleiht dem Stück bei aller körperlichen Spitzenleistung letztendlich einen Eindruck der Unentschlossenheit. Üppigkeit geht hier vor Quintessenz.

Der Jubel war dennoch groß. Und als De Keersmaeker für die Schlussverbeugung doch noch auf die Bühne des Volkstheaters kam, schwoll der Beifall noch einmal an. Bei der stets heiklen Frage, ob ein Werk unabhängig von der moralischen Integrität seines Schöpfers bzw. seiner Schöpferin gesehen werden kann, schien sich zumindest das Premierenpublikum an diesem Abend eindeutig festgelegt zu haben.

(Von Thomas Rieder/APA)

ImPulsTanz: „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“ von Anne Teresa De Keersmaeker und Radouan Mriziga/Rosas, A7LAS. Getanzt von Boštjan Antončič, Nassim Baddag, Lav Crnčević und José Paulo dos Santos. Weitere Aufführungen: 16. (Zusatzvorstellung), 17. und 18. Juli, 21 Uhr, im Wiener Volkstheater. impulstanz.com

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