Achtung, Deglobalisierungsfalle!

Warum wirtschaftliche Abschottung als Reaktion auf Corona fatal wäre

Covid-19 hat die Welt im Würgegriff. Die ganze Welt? Nein! Auf North Sentinel Island hat das Virus keine Chance. Denn die Sentinelesen leben absolut abgeschottet von der Außenwelt.

Weil das auch die indische Regierung respektiert, weiß bis heute niemand, was der 2004 im Indischen Ozean wütende Tsunami auf dieser Insel angerichtet hat. 2018 kostete die Konsequenz, mit der die Eingeborenen ihre Selbstisolation durchziehen, einen US-Touristen sogar das Leben: Er wurde mit Pfeil und Bogen getötet, als er die 60 Quadratkilometer große Insel zu betreten versuchte.

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Die Radikalquarantäne bedeutet hundertprozentigen Schutz gegen unerwünschte Nebenwirkungen menschlicher Interaktion. Also auch gegen das Coronavirus.

Linksrechter Sentinelismus

Obwohl die nur ein paar Dutzend Köpfe zählenden Sentilenesen gar keine isolationistische Weltrevolution ausgerufen haben, breitet sich das Inseldenken gerade viral aus. Die Globalisierung ist schuld, tönt es aus dem linken Eck. Und natürlich der sogenannte Neoliberalismus, der den Globalisierungswahn geboren haben soll. „Die Ideologie der Neoliberalen und Konservativen wurde durch die Coronakrise in die Mottenkrise befördert“, frohlockte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner am 1. Mai. Am linken Parteiflügel denkt man gleich weiter: „Wir haben schon lange nicht mehr über Enteignung diskutiert“, beklagt etwa die oö. SPÖ-Jugend auf ihrer Homepage.

Weil man sich links- und rechts- außen oft einig ist, zeigen auch FPÖ oder AfD isolationistische Tendenzen. „Globalisierung wird jetzt nicht mehr mit Fortschritt gleichgesetzt, sondern mit Verwundbarkeit und Ansteckungsgefahr“, findet FPÖ-Klubchef Herbert Kickl. Und für den AfD-Politiker Martin Schiller „unterstreicht Corona auf geradezu brutale Weise, wie abhängig und erpressbar die viel gepriesene Globalisierung uns gemacht hat“.

Unleugbare Probleme

Einfach vom Tisch wischen lässt sich derartige Kritik nicht. Probleme sind tatsächlich nicht zu leugnen. Die Corona-Krise offenbarte Schattenseiten der Weltvernetzung: Unterbrochene Lieferketten gäbe es ohne Globalisierung nicht. Die Abhängigkeit von China etwa im Pharmabereich ist lebensgefährlich. Und wahrscheinlich hätte sich das Virus überhaupt nicht blitzartig von Wuhan aus über den Globus verbreiten können, gäbe es diese internationalen Verflechtungen nicht.

Die schon seit zwei Jahrzehnten den Teufel an die Wand malenden Globalisierungsgegner fühlen sich bestätigt. Sie sehen die Welt in der Globalisierungsfalle.

Es wäre jedoch fatal, das Pendel nun einfach in die andere Richtung zurückschlagen zu lassen. Für ein Land wie Österreich, das sechs von zehn Euro im Export verdient, würde „Glokoalisierung“ geradezu eine Horrorvision bedeuten.

In manchen Bereichen, etwa dort, wo es um Sicherheit und Gesundheit geht, wird man nationale oder europäische Produktionen aufziehen, sich aber auch des Kostenfaktors bewusst sein müssen: Billiger werden Medikamente nicht, wenn sie anstatt in Asien in Europa hergestellt werden. Ein völliges Ausschalten des Lieferkettenrisikos über alle Sektoren hinweg würde keinesfalls zur wundersamen Arbeitsplatzvermehrung in Europa führen, sondern zu allgemeinem Wohlstandsverlust. Denn für die (zum Glück nicht von der Politik befehlbare) Rückverlagerung von Produktionen würden letztlich nicht nur die Konsumenten in Form höherer Preise zahlen. Eine deglobalisierte europäische Wirtschaft wäre nicht konkurrenzfähig. Vielleicht könnte sie eine Zeit lang mit Zöllen oder nichttarifären Handelshemmnissen wie Normen und Standards geschützt werden, auf Dauer aber wäre die Deindustrialisierung Europas unausweichlich.

Globalisierung nützt allen

Nicht nur die eurozentrische Sicht gebietet Vorsicht bei allen Versuchen, unerwünschte Ne- benwirkungen der Globalisierung zu eliminieren. Denn diese hat die Welt insgesamt lebenswerter gemacht, als verbohrte Ideologen zuzugeben bereit sind. Dass die im Jahr 2000 von der UNO ausgegebenen Millenniumsziele weitgehend erreicht wurden, hat viel mit der ökonomischen Vernetzung zu tun: Seit 1990 hat sich die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen mehr als halbiert: Noch immer müssen rund 820 Millionen Menschen mit weniger als 1,90 Dollar am Tag auskommen, vor 30 Jahren aber waren es zwei Milliarden. Halbiert haben sich in diesem Zeitraum auch die Neugeborenen- und Kindersterblichkeit sowie die Zahl der Kinder, die keine Schule besuchen können. Man mag einwenden, dass diese Zahlen noch immer viel zu hoch sind. Aber der positive Trend ist unbestritten — und vor allem darauf zurückzuführen, dass die Globalisierung Wohlstandszuwachs in Weltgegenden gebracht hat, die bislang von jeglichem Fortschritt abgeschnitten waren.

Das mögen alle bedenken, die im Angesicht der Corona-Krise den Sentinelesen nacheifern.

Eine Analyse von Manfred Maurer

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