Meinung

von Christian Haubner

Analyse: Aufgabe und Verpflichtung

Lehren, die wir alle aus dem Sturm auf das Kapitol ziehen sollten.

Die Bilder, die uns in der Nacht auf gestern vom Sturm aufgebrachter Trump-Anhänger auf das Kapitol erreicht haben, waren vieles: verstörend, beängstigend, unglaublich, alarmierend und noch mehr. Ganz überraschend waren sie jedoch nicht. Denn im Vorfeld hatten einige republikanische Senatoren und Abgeordnete Störaktionen angekündigt und auch der Präsident selbst hat seine Hardcore-Fans geradezu aufgestachelt, indem er stets von seiner „gestohlenen Wahl“ und dem Kampf dagegen geredet hat.

Spätestens jetzt ist es unabdingbar, die Situation zu analysieren und Lehren daraus zu ziehen. Denn was in den USA passiert ist, ist nichts anderes als ein Anschlag auf die Demokratie – und das kann auch anderswo passieren. Eine Analyse zeigt, dass es so etwas wie einen Sündenfall gegeben hat. Und der war nicht die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten. Die war demokratisch legitimiert und somit anzuerkennen.

„Den Sündenfall hat die republikanische Partei ausgelöst, indem sie ihren Präsidenten mit allem durchkommen ließ.“

Den Sündenfall hat die republikanische Partei ausgelöst, als sie ihren Präsidenten mit all seinen Lügen, Halbwahrheiten, Agitationen, Aufwiegelungen, Spaltungen und Beleidigungen durchkommen ließ, bloß weil es ihrem eigenen Machterhalt diente. Und auch andere politische Kräfte müssen sich fragen, ob ihre Strategien gegen einen Demagogen im höchsten Polit-Amt des Landes ausgereicht haben. Es ist offensichtlich, dass dies nicht der Fall war.

„Im Kern geht es darum: In der Politik darf niemals der Zweck die Mittel heiligen.“

Im Kern geht es darum: In der Politik darf niemals der Zweck die Mittel heiligen. In der Politik darf es zwar natürlich um Dinge wie Strategie und Außenwirkung gehen, letztlich müssen aber Seriosität und Ehrlichkeit die Grundlagen bleiben. Ist das nicht der Fall, braucht es einen politischen und gesellschaftlichen Konsens, das nicht zu akzeptieren.

Da reicht es nicht, wenn ein Gutteil der präsidialen Äußerungen auf Twitter mit Warnhinweisen versehen oder, wie kürzlich geschehen, Konten des Präsidenten auf sozialen Medien gesperrt werden – was für sich genommen schon ein Armutszeugnis sondergleichen ist. Das ist zu wenig. Wenn ein Mensch nicht über die persönliche oder geistige Eignung verfügt, ein hohes Amt zu bekleiden, muss es rechtzeitig Konsequenzen geben.

„Vergessen wir nicht: Der erste Mann im Staat hatte einst sogar rechte, bewaffnete Gruppierungen unverhohlen und ohne Scham dazu aufgefordert, ,sich bereit zu halten‘“.

Auch die US-Exekutive muss sich wohl Vorwürfe gefallen lassen. Wie eingangs erwähnt, waren Störaktionen im Vorfeld angekündigt worden. Und vergessen wir nicht: Der erste Mann im Staat hatte einst sogar rechte, bewaffnete Gruppierungen unverhohlen und ohne Scham dazu aufgefordert, „sich bereit zu halten“. Dennoch wirkten die Einsatzkräfte komplett überrumpelt.

„Nennen wir die Dinge endlich beim Namen: Es gibt keine gestohlene Wahl in den USA.“

Kommen wir von der Analyse zu den Lehren. Die wichtigste Konsequenz muss sein: Nennen wir die Dinge endlich beim Namen: Es gibt keine gestohlene Wahl in den USA. Selbst führende Republikaner, darunter Wahlleiter, Minister, frühere Präsidenten, widersprechen solchen Trump’schen Hirngespinsten. Gäbe es tatsächlich eine Verschwörung gegen den republikanischen Präsidenten, müssten die Republikaner selbst darin verwickelt sein. Wie wenig glaubwürdig das ist, versteht sich von selbst.

Diese Lehre gilt nicht nur für Übersee, sie gilt überall: Es gibt etwa auch keine durch Chemtrails durchgesetzte geheime Weltverschwörung. Es gibt keine Versuche von Bill Gates, Menschen mit Impfungen zu versklaven. Es gibt aber sehr wohl das Coronavirus. Und nein, es löst nicht bloß einen harmlosen grippalen Infekt aus. Genauso gibt es derzeit überfüllte Intensivstationen.

„Schon gar nicht darf die Politik Förderer solcher Verschwörungstheorien sein.“

Daraus ergibt sich eine weitere Lehre: Offensichtliche Wahrheiten dürfen nicht geleugnet werden. Schon gar nicht darf die Politik Förderer solcher Verschwörungstheorien sein. Letztere sollte man besser Verschwörungsideologien nennen, denn eine Theorie ist keine mehr, wenn sie einmal widerlegt ist.

„Diskutieren wir die Maßnahmen, aber verteufeln wir nicht grundsätzlich alles.“

Noch eine Lehre: Versucht es die Politik trotzdem, braucht es einen mehrheitlichen Konsens in der Zivilgesellschaft inklusiv der Medien, sich das nicht gefallen zu lassen, sich nicht für dumm verkaufen zu lassen. Das beginnt schon im Kleinen: Lassen wir es uns nicht gefallen, wenn Abgeordnete im Nationalrat Coca-Cola über einen Corona-Test schütten, um damit krude Behauptungen zu untermauern. Belohnen wir nicht das reflexartige, unreflektierte Dagegen-Sein, wenn etwa eine Regierung Verantwortung wahrnimmt und in einer Pandemie Maßnahmen setzt. Diskutieren wir die Maßnahmen, aber verteufeln wir nicht grundsätzlich alles. Akzeptieren wir nicht, wenn Menschen demokratische Wahlen nicht anerkennen.

Zweifellos lassen sich Menschen aufstacheln, lassen sich Neid, Missgunst und sogar Hass schüren. Daher sollte für eine Mehrheit gelten: Sobald Politikerinnen und Politiker diese Klaviatur bespielen, mangelt es ihnen an echten, überzeugenden Konzepten und am Willen zu gestalten.

„Es kommt darauf an, ob der Weckruf, der von den USA ausgeht, von ausreichend vielen Menschen verstanden wird.“

Es ist dieser Tage oft davon die Rede, dass der Trumpismus bleiben wird, auch wenn Trump nicht mehr Präsident ist. Denn natürlich sind Gefühlslagen wie Ressentiments oder der Glaube, im Zuge geheimer Verschwörungen übervorteilt zu werden, in Teilen der Bevölkerung vorhanden. Diese Strömungen werden auch in Gesellschaft und in sozialen Medien vorhanden bleiben. Ob auch der Trumpismus bleibt, hängt aber nicht davon ab. Es kommt vielmehr darauf an, ob der Weckruf, der von den USA ausgeht, von ausreichend vielen Menschen verstanden wird. Wenn verstanden wird, dass Lügen, Agitation und Co. natürlich existieren und auch zum Ausdruck gebracht werden, durch die Politik aber nicht gefördert werden dürfen, dann kann auch der Trumpismus allerorts in Schach gehalten werden. Das ist eine Verpflichtung der politisch Handelnden und auch der Wählenden.

Alles in allem braucht es eine gesamtgesellschaftliche Diskussion, die laut sein darf, aber ehrlich und vor allem respektvoll sein muss. Stellen wir uns den Diskussionen, nehmen wir andere Meinungen ernst, anstatt uns über sie lustig zu machen, uns überlegen zu fühlen, die Nase zu rümpfen oder uns indigniert abzuwenden. Das ist Aufgabe und Verpflichtung. Denn es geht um die Gesellschaft, in der wir leben.

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