Appeasement, was sonst?

Europa, aber auch die USA sind zu kaum mehr als Beschwichtungspolitik gegenüber Putin fähig

Ukraine-Demo in Berlin: Putin stoppen — aber wie?
Ukraine-Demo in Berlin: Putin stoppen — aber wie? © AFP/MacDougall

Die Deutschen zieren sich. Liefern der Ukraine nur Schutzhelme, keine Waffen. Die Gaspipeline Nord Stream 2 will SPD-Kanzler Olaf Scholz (so wie Österreich) möglichst nicht in die Waagschale werfen. Während Viktor Orban im Kreml einen Gaspreisrabatt erkuschelt, tüfteln EU und Nato an Sanktionen, wobei Letztere einen Militäreinsatz in der Ukraine im Falle einer russischen Invasion von vornherein ausschließt.

Paul Lendvai kritisiert das im Standard-Gastkommentar als „brandgefährliche Beschwichtigungspolitik“. In der Tat: Vor allem die Ukraine-Poltik der EU riecht nach Appeasement, also nach dem in den 1930er Jahren gescheiterten Versuch, Nazi-Deutschland durch Zugeständnisse und Zurückhaltung zu bremsen.

Illusionäre Russland-Politik

Natürlich will niemand ein neues Münchener Abkommen, sprich: wie 1938 die Tschechoslowakei zur Abtretung des Sudetenlandes nun die Ukraine zur Anerkennung der von Waldimir Putin annektierten Krim drängen. Dennoch: Die territoriale Integrität der Ukraine in den Grenzen vor Februar 2014 ist nur noch Fiktion. Laut sagen darf man das aber nicht. „Die Halbinsel Krim ist weg, sie wird nicht zurückkommen“, hatte der deutsche Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach gemeint und war seinen Job los. Sein Vergehen: Er störte die Illusion. Glaubt aber wirklich jemand, das Rad der Geschichte ließe sich zurückdrehen? Nein, natürlich wissen alle: Eher wird Putin Pussy-Riot-Mitglied als die Krim wieder ukrainisch.

„Mourir pour Kiew?“

Vielleicht wäre die Prognose günstiger, stünde der Kremlchef einem politisch wie militärisch geschlossenen Block gegenüber, dem er auch die Bereitschaft zur bewaffneten Auseinandersetzung zutrauen müsste.

Eine solche Bereitschaft gibt es jedoch nicht. In Europa sowieso nicht, in den USA nicht wirklich.

Joe Bidens hinterher korrigierter Versprecher war ein Freud’scher: „Eine kleine Invasion“ in der Ukraine hätte keine militärische Reaktion der USA zur Folge. Natürlich werden die gerade aus Afghanistan davongelaufenen Amerikaner kein neues Abenteuer mit ungewissem — nicht auszuschließen: atomarem — Ausgang riskieren. So wie 1939 in Frankreich der Faschist Marcel Déat vor Hitlers Überfall auf Polen „Mourir pour Danzig?“ fragte, würden viele Amerikaner heute fragen: „Die for Kiev?“ Auch in Europa ist die Antwort klar: Kaum ein Politiker Sterben für Kiew verantworten wollen.

Militärisch ist die Sache also klar. Außer Muskelspielen hat Putin in dieser Hinsicht wenig bis gar nichts zu befürchten.

Bleibt also nur die wirtschaftliche Karte. Doch auch dieses Ass ziehen die „Appeaser“ nicht gern aus dem Ärmel. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass diese Karte bei genauerer Betrachtung gar kein Ass ist.

Gasputins Macht

Angenommen, der Westen stoppt Nord Stream 2 tatsächlich. Noch fließt durch die Röhren kein Gas, es träte also keine Veränderung zum Status quo ein. Das gilt jedoch nur, solange Putin mitspielt. Womit nicht zu rechnen ist. Schon im November stoppte Gazprom als Vorwarnung den Gasfluss durch die über Polen nach Deutschland führende Jamal-Pipeline. Auch im Winter 2005/6 führte der russisch-ukrainische Zwist zu Druckabfall in den Pipelines. Gelernt hat Europa daraus nicht.

Die damals angestrebte Lieferantendiversifizierung wurde nicht realisiert. Die (ohne russisches Gas geplante) Nabucco-Pipeline wurde verbockt, stattdessen mit Nord Stream die Abhängigkeit von Moskau noch vergrößert. Mag sein, dass Gazprom, wie uns weis gemacht wird, vertragstreu ist. Aber jederzeit können „technische Probleme“ bei alten Pipelines auftreten, die einen Gastransport durch die neue Leitung Nord Stream 2 unumgänglich machen, weil andernfalls die Preise weiter explodieren. Diese Woche hat der Anbieter Montana seine Kunden in Österreich informiert, dass sich der Gaspreis bis Dezember gegenüber Herbst 2021 mehr als vervierfachen wird. Kommt es wegen der Ukraine zum Wirtschaftskrieg war das nur ein Vorgeschmack.

Zahlen für Kiew?

Die Bereitschaft der durch Corona und Inflation schon genug belasteten Bürger, Nachteile durch die unvermeidbare Bumerangwirkung von Wirtschaftssanktionen in Kauf zu nehmen, hält sich in Grenzen. Das begrenzt auch den Handlungsspielraum der Regierenden im Westen, die anders als Putin in echten Wahlen bestehen müssen.

Daraus folgt: Zu sehr viel mehr als Appeasement-Politik ist der Westen gar nicht fähig.

Von Manfred Maurer

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