Bis sich die Wut umkehrt

Salzburger Festspiele: „Ingolstadt“ nach Marieluise Fleisser

Rettet er sie? Quält er sie? Jan Bülow (Roelle), Marie-Luise Stockinger (Olga)
Rettet er sie? Quält er sie? Jan Bülow (Roelle), Marie-Luise Stockinger (Olga) © SF/Matthias Horn

„Ich glaube an Gott … und die heilige katholische Kirche“, in einem Atemzug mit Gott nennen sie den Machtapparat, der ihre Gehirne wäscht, um sie mit Sünde, Schuld und Scham aufzufüllen. Männliche Seelen deformiert das Militär durch Druck, Drill mit Unterwerfung.

Die coronabedingt verschobene Premiere „Ingolstadt“ kam nun auf die Bühne der Perner Insel. Regisseur Ivo van Hove kürzte zwei abendfüllende Stücke von Marieluise Fleisser auf gut zwei Stunden, die Doppelhelix blieb dennoch viel zu lange.

Fleisser (1901-1972) schrieb als 23-Jährige das Stück „Fegefeuer in Ingolstadt“. Bert Brecht motivierte sie zum zweiten Stück „Pioniere in Ingolstadt“ und modellierte Szenen in seinem Duktus.

„Fegefeuer in Ingolstadt“ erzählt von der ungewollt schwangeren Gymnasiastin Olga. Vergeblich sucht sie Hilfe bei einer Engelmacherin. Außenseiter Roelle will ihre Zuneigung erzwingen, drum erpresst er sie mit dem Wissen um ihre misslungene Abtreibung. Zugleich sucht er Aufmerksamkeit, indem er Engelsvisionen behauptet.

Das zweite Stück nennt die Autorin Komödie. Pioniere ziehen in Ingolstadt ein, um eine Brücke zu bauen. Die Dienstmädchen Berta und Alma sehen besondere Chancen. Berta verliebt sich in den Soldaten Korl, Alma sieht wirtschaftliche Chancen und bleibt auf der Strecke, weil die Männer bestimmen, was einer Frau ihrer Art zusteht.

Wir sind Voyeure

Regisseur Ivo van Hove (arbeitete mit Juliette Binoche, Isabelle Huppert, David Bowie) verbindet die beiden Stücke in eine Folge abwechselnder Szenen. Mit großem Personalaufwand stehen zwei Gesellschaften auf der düsteren Bühne, einer Wasserfläche mit wenigen Inseln (Bühne: Jan Versweyfeld). Ein bühnenfüllender Spiegel zeigt die Figuren von mehreren Seiten, wie von Brecht angeordnet werden die Zuseher zu sich selbst beobachtenden Voyeuren. Nachdem Korl Berta auf offener Bühne vergewaltigt, ringt sie weiter um seine Zuneigung. Soldat: „Fehlt was?“ Berta: „Liebe“. Abgang, eine zerstörte Seele mehr.

Die Oberösterreicherin Marie-Luise Stockinger als Olga sucht einen Weg um ihr Ungeborenes loszuwerden. Ihr exzentrischer Retter und Feind Roelle alias Jan Bülow bleibt auch unter Folter, nackt und halb wahnsinnig, unscheinbar. Als Alma prostituiert sich zuversichtlich-heiter Dagna Litzenberger Vinet. Nach Demütigung und Desillusion kehrt sie in die allgemeine Tristesse namens Ingolstadt zurück, wie die, um Liebe heischende Berta, Lilith Häßle, vielleicht mit abgelegter Naivität. Korl (Maximilian Pulst) gesteht sich selbst und schon gar nicht anderen Liebe zu. Große Besetzung mit durchwegs beachtlichen Leistungen.

Der nur vordergründige Anachronismus eignet sich zur Reflexion über aktuelle Zustände hinsichtlich Feminismus, Selbstbestimmung oder Selbstverteidigung und bietet brisante Anregungen zu den heutigen Rollen von Religion und Militär.

Das könnte Sie auch interessieren