Schweizer Jugendstrafrecht rückt Prävention in Fokus

Im Fokus der Diskussion um eine Senkung des Strafalters steht ein Modell nach Vorbild der Schweiz. Dort setzt man auf engmaschige Behandlung von Tätern im Alter von zehn bis 18 Jahren. „Ein 13-Jähriger könnte bei uns einen Mord begehen und die Maximalstrafe ist zehn Tage gemeinnützige Arbeit“, sagt der Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Jugendstrafrechtspflege, Patrik Killer, der APA. Im Hinblick auf die aktuelle Debatte warnt er, „Äpfel mit Birnen zu vergleichen“.

Spezielle Einrichtungen, so der Jurist, seien stets erforderlich für ein vorrangig auf erzieherische und therapeutische Sanktionen ausgerichtetes System für junge Täterinnen und Täter. Für diese existieren in der Eidgenossenschaft eigene Staatsanwaltschaften, Jugendgerichte, Jugendabteilungen in Gefängnissen sowie geschlossene als auch offene Unterbringungsmöglichkeiten in Erziehungs- und Behandlungseinrichtungen, aber auch bei Privatpersonen.

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Wenn ein Kind an oder nach seinem zehnten Geburtstag einen Ladendiebstahl begehe, mache es sich strafbar, so Killer, hauptberuflich Leiter der Jugendanwaltschaft Zürich-Stadt (Anmerkung: Jugendstaatsanwaltschaft). Daraufhin werde immer geprüft, ob eine erzieherische oder therapeutische „Schutzmaßnahme“ benötigt werde. Habe der Jugendliche schuldhaft gehandelt, könne zusätzlich oder als einzige Rechtsfolge eine Strafe angeordnet werden.

Für unter 15-Jährige betrage das Höchstmaß bei Strafen bis zu zehn Tage „persönliche Leistung“ (Anmerkung: Angeordnete unentgeltliche Arbeit in sozialen oder öffentlichen Einrichtungen sowie verpflichtende Besuche von bestimmten Kursen) – selbst bei schweren Gewalt- und Tötungsdelikten. In solchen Fällen stünden aber primär „Schutzmaßnahmen“ im Vordergrund, diese könnten maximal bis zum Alter von 25 Jahren dauern. Für über 15-Jährige seien auch Freiheitsentzüge vorgesehen, erklärt der Experte im APA-Gespräch. Bei Zwangsmaßnahmen wie der Anordnung von U-Haft müsse jedoch immer die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden.

Der Strafenkatalog bei unter 15-Jährigen sieht in der Schweiz ausschließlich zwei Arten von Sanktionen vor: Als gelinderes Mittel einen Verweis („eine Art gelbe Karte“), als schärfere Sanktion eine „persönliche Leistung“ von bis zu zehn Tagen. Für über 15-Jährige beträgt das Höchstmaß dabei maximal drei Monate. Zudem können ab dem 15. Geburtstag Geldstrafen von – umgerechnet – bis zu 2.063,35 Euro verhängt werden, in besonders schweren Fällen Freiheitsentzüge bis zu einem Jahr. Ab dem 16. Geburtstag sind solche Freiheitsstrafen von bis zu vier Jahren möglich. Dabei werde die Zeit der „Schutzmaßnahmen“ jedoch in angemessener Weise auf die Strafen angerechnet. „Im Optimalfall können wir feststellen, dass der Zweck der Schutzmaßnahmen erreicht ist. In einem solchen Fall muss ein gleichzeitig ausgesprochener Freiheitsentzug nicht mehr vollzogen werden.“

„Die Strafen sind im internationalen Vergleich eher niedrig, weil es bei derart jungen Tätern immer zuerst um die Prüfung von Schutzmaßnahmen geht.“ Darunter fallen die Anordnung von: institutioneller Aufsicht, persönlicher sozialpädagogischer Betreuung, ambulanter Therapie oder im härtesten Fall eine Unterbringung in einer offenen oder geschlossenen Einrichtung oder bei Pflegefamilien. „Das kommt dann auf die Straftat und die persönlichen Verhältnisse des Jugendlichen an“, so der Jurist. „Wenn ein 13-Jähriger eines Tötungsdelikts oder einer schweren Vergewaltigung beschuldigt wird, ist es wahrscheinlich, dass er in eine offene oder geschlossene Beobachtungsstation muss und zusätzlich eine psychologische oder psychiatrische Begutachtung in Auftrag gegeben wird.“

Während der dortigen Abklärungen steht der Jugendliche für mehrere Monate unter Obhut von Sozialpädagogen, Psychiatern und Psychologen. „Dann wird der Maßnahmenplan festgelegt“, sagt Killer. „Das kann dann beispielsweise eine weitere Unterbringung in einer offenen oder geschlossenen Institution bis hin zu einer Rückkehr nach Hause unter bestimmten Auflagen sein“, sagt Killer. „Der Jugendliche wird nicht einfach in einer geschlossenen Unterbringung eingesperrt, sondern mit ihm auf den Abschluss einer Ausbildung und seine soziale Eingliederung in die Gesellschaft hingearbeitet.“ Am Ende eines solchen Weges – spätestens am 25. Geburtstag – von jugendlichen Tätern stehe im Idealfall das erfolgreiche Ende der Unterstützung. „Das heißt, dass der Zweck der Maßnahme mit allen Zielsetzungen erreicht werden konnte.“ Jährlich fänden dazu Überprüfungen und Anpassungen statt.

Im Strafregisterauszug scheine nur die Verurteilung zu einer Unterbringung, einer ambulanten Behandlung oder einer Freiheitsstrafe auf und sei stets nur für die Behörden ersichtlich. „Wenn der Jugendliche einen Auszug für eine Lehrstelle oder einen Job braucht, dann steht das nicht im Auszug.“

Im Schweizer Rechtssystem stehe bei Jugendlichen vor allem die Wiedereingliederung in die Gesellschaft im Mittelpunkt. „Wir achten darauf, was ein Jugendlicher braucht, damit er seine maßgeschneiderten Ziele erreicht und nicht mehr straffällig wird.“ Das Schweizer Modell mit Fokus auf „Schutz und Erziehung“ diene keinesfalls der Abschreckung, sondern gebe Maßnahmen und gesellschaftlicher Wiedereingliederung sowohl bei unter als auch bei über 15-Jährigen stets Vorrang vor Strafen.

Doch für eine Umsetzung dieses Systems brauche es auch die dafür nötigen Möglichkeiten. Ein Strafrecht nach diesem Modell funktioniere immer nur „mit der entsprechenden Infrastruktur, wo man mit diesen Jugendlichen dann auch hin kann“, erklärt Killer. Zuletzt hatten Vertreter der Volkspartei – nach einem Vorstoß von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) – eine Absenkung der Strafmündigkeit auf unter 14 Jahren ins Spiel gebracht und dabei unter anderem auf die Schweiz verwiesen.

Patrik Killer steht der Schweizerischen Vereinigung für Jugendstrafrechtspflege vor und leitet die Jugendanwaltschaft Zürich-Stadt. Im gesamten Kanton Zürich bearbeiten die Jugendanwaltschaften pro Jahr rund 6.000 Fälle. Die Palette reicht dabei von geringfügigen Übertretungen wie Schwarzfahren über Drogenstraftaten bis hin zu Tötungsdelikten und Sexualverbrechen.

(Von Nikolaus Pichler/APA)

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