Der Nationalpark Kalkalpen zeigt, wie Renaturierung geht

Kein anderer Begriff hat in Österreichs Politik in den vergangenen Tagen für so viel Aufregung gesorgt wie das Wort „Renaturierung“. Im Sengsengebirge und dem Reichraminger Hintergebirge in Oberösterreich weiß man genau, was es bedeutet. „Der Nationalpark Kalkalpen ist ein erfolgreiches Renaturierungsprojekt“, sagt Nationalparkdirektor Josef Forstinger. „Die Wälder hier wurden für die Eisenindustrie lange sehr intensiv genutzt und sind der Natur wiedergegeben worden.“

Heute ist die Politik stolz auf die damalige Entscheidung, über 20.000 Hektar Waldgebiet 1997 zum Nationalpark zu erklären. „Doch ursprünglich wäre für das Gebiet eine völlig andere Nutzung geplant gewesen – als Kanonenschießplatz, als Nutzung für Wasserkraft, auch eine mitten hindurch führende Autobahntrasse war im Gespräch“, erinnert sich Forstinger. „Dass zum Schluss aufgrund des Widerstandes der lokalen Bevölkerung ein Entscheidungswandel herbeigeführt wurde, ist eine glückliche Fügung gewesen.“

Dass der Nationalpark Kalkalpen heute als Österreichs größte zusammenhängende Waldwildnis gilt, ist auch auf eine Bestimmung des Forstgesetzes zurückzuführen: Rund 15.000 Hektar Wald wurden per Bescheid zum Biotopschutzwald bestimmt. Dort ist der Natur ihre natürliche Dynamik wieder zurückgegeben worden. „Prozessschutz“ heißt diese relativ junge Naturschutzstrategie, die über die frühere Doktrin der Bestandsbewahrung weit hinausgeht. „Prozessschutz meint nichts anderes als den Schutz der natürlichen Evolution. Die Natur sich selbst zu überlassen ist die höchste Form des Schutzes, den wir der Natur geben können“, erklärt der Biologe Erich Weigand.

Weigand ist im Nationalpark für Forschungskoordination und den Fachbereich Schutzgüter zuständig. „Wir wissen, dass es im Nationalpark Urwaldinseln gibt, wo der Mensch praktisch nie war. Hier haben sich hoch anspruchsvolle Urwaldorganismen erhalten. Meine Forschung geht stark in Richtung Urwaldreliktarten bei den Käfern. Wir haben im Nationalpark 41 solcher Arten nachweisen können. Diese hohe Artenzahl ist für den Ostalpenraum sensationell und sonst nur noch in den Urwäldern etwa von Bulgarien und Rumänien nachzuweisen. Von diesen Inseln bereiten sich diese Arten nun sukzessive weiter aus, wie wir feststellen können.“

Der Blick über die schluchtenartigen Einschnitte im Zentrum des Hintergebirges ist tatsächlich eindrucksvoll. Sowohl die Steilheit der Hänge als auch die nach Windbrüchen kreuz und quer liegenden Baumstämme sorgen für einen urtümlichen Eindruck. Der Schein trügt nicht. „Hier gibt es Felszacken, auf denen vermutlich noch nie ein Mensch gestanden ist“, sagt Franz Sieghartsleitner, der an diesem schwülen Juni-Tag eine Journalisten-Gruppe durch das Kerngebiet des Nationalparks führt. Manche Hänge sind erst ein einziges Mal forstwirtschaftlich genutzt worden, nämlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Überreste von Klausen, aus Holz gezimmerte Stauwerke, die die Bäche für die Holztrift nutzbar machten, erzählen noch heute die Geschichte der beschwerlichen und gefährlichen Nutzung dieser Wälder, von denen manche seit fast 200 Jahren sich selbst überlassen sind. Totholz, das heißt umgestürzte Bäume, ist hier nicht ästhetischer und wirtschaftlicher Störfaktor, der so rasch wie möglich „weggeräumt“ werden muss, sondern wichtiger Lebensraum und originärer Bestandteil eines Wald-Lebenszyklus, den der Mensch im Wirtschaftswald radikal verkürzt.

Vom bewirtschafteten Wald, der in Mitteleuropa unsere Vorstellung eines Waldes dominiert, unterscheiden sich diese „Urwälder“ in vieler Hinsicht. So wird hier etwa der Borkenkäfer, heute überall der Hauptfeind der Forstwirte, nicht bekämpft. „Für uns im Nationalpark ist der Borkenkäfer kein Schaden, sondern ein Motor, der die Waldumwandlung beschleunigt. Wir sind sicher, dass sich Wälder ohne menschliche Eingriffe besser an den Klimawandel anpassen als bei forstlich genutzten Flächen. Wir haben um eine Ausnahme angesucht und können auf 79 Prozent unserer Fläche den Borkenkäfer als Teil der natürlichen Dynamik arbeiten lassen“, sagt der Forstwirt Christian Fuxjäger. Dass er sich im Nationalpark dennoch nicht nur um Wildtierkameras und die fragile Luchs-Population, sondern auch um „Borkenkäfermanagement“ kümmert, hat mit den restlichen 21 Prozent Fläche zu tun. In der Randzone werden nämlich befallene Stämme wie anderswo entfernt, um Schäden an den angrenzenden Wäldern zu verhindern.

Den Menschen zu vermitteln, dass in der Kernzone der ungehinderte Borkenkäfer keineswegs die Wälder kaputtmache, sei keine einfache Sache, erzählt der langjährige Nationalparkmitarbeiter. Für Aufregung hat auch gesorgt, dass man sich nach Unwettern 2002 dazu entschlossen hat, beschädigte Forststraßen nicht wiederherzustellen, sondern gleich endgültig unpassierbar zu machen. Staunend kann man sich heute davon überzeugen: Die Bagger, die man auf einer Länge von 400 bis 500 Metern auffahren ließ, haben ganze Arbeit geleistet.

Kaum zu glauben, dass in dem unwegsamen Gelände, wo Buschwerk und kleine Fichten das Fortkommen erschweren, früher noch Autos unterwegs sein konnten. Auch bei den übrigen Abschnitten der Forststraßen ist die Renaturierung bereits voll im Gang. „Es ist spannend zu beobachten, wie schnell sich die Natur diese Flächen zurückholt“, meint Fuxjäger. Losungen sowie Spuren von Hufen und Pfoten zeigen, wer heute hier unterwegs ist. „Auch Tiere lieben es, rasch und bequem voranzukommen“, schmunzelt Sieghartsleitner.

An anderen Stellen hat man natürliche Bachläufe wiederhergestellt. Mehr als 10.000 Tier-, Pflanzen- und Pilzarten leben in dem aus rund 30 Waldtypen bestehenden „Habitatmosaik“ des Nationalparks. Das Bewusstsein, dass dieser Genpool einen wichtigen Faktor zur Sicherung künftiger Biodiversität darstellt, ist auch in der Politik größer geworden. In der „Biodiversitäts-Strategie Österreich 2030+“, die dazu dient, internationale Vorgaben umzusetzen, sind zehn Punkte aufgelistet, die allesamt großartig klingen. Sie reichen von radikaler Reduzierung der Flächeninanspruchnahme und Fragmentierung bis zur Wiederherstellung wichtiger Ökosysteme. Warum also hat die Zustimmung Österreichs zum EU-Renaturierungsgesetz so viel politische Aufregung verursacht?

„Die Frage ist immer: Inwieweit passiert das mit Anreiz oder mit Druck? Die Angst vor dem Druck auf den einzelnen Grundeigentümer oder -nutzer ist riesengroß“, analysiert Josef Forstinger. „Hier bedarf es eines intensiven Diskussions- und Überzeugungsprozesses, um die geeigneten Ziele und Maßnahmen für Österreich zu formulieren.“ Fehlt der heutigen Politikergeneration der Mut ihrer Vorgänger, die mit der Gründung des Nationalparks Unschätzbares für die Natur geleistet haben? „Die Politik hat bewiesen, auch sehr kurzfristig zu mutigen Entscheidungen in der Lage zu sein.“ Er gebe daher die Hoffnung nicht auf, dass „mutige Renaturierungsschritte“ weiterhin möglich seien, sagt der Nationalparkdirektor. „Leider sind wir momentan in einer Vorwahlkampfphase, wo solche Entscheidungen nicht zu erwarten sind.“

(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)

kalkalpen.at

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