Hilfe für bis zu 80.000 ME/CFS-Erkrankte verbesserungswürdig

Protestaktion von Betroffenen in diesem Frühjahr in Wien © APA/EVA MANHART

Es gibt eine chronische Krankheit mit bis zu 80.000 Betroffenen in Österreich, die viel zu wenig medizinische Hilfe bekommen, kritisierten Experten Freitag in Wien vor Journalisten. „ME/CFS“ bringt ihnen starke Erschöpfung nach mäßiger Aktivität, die nicht durch Ruhe gelindert wird. Damit Ärzte sie besser erkennen und behandeln können, entwickelten sie zwei medizinische Leitfäden. Laut einer Umfrage erwarten viele Leute im Krankheitsfall keine schnelle und kompetente Hilfe.

ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) gehört zu einer Gruppe von schweren, chronischen Multisystemerkrankungen, die meist zwischen dem 18. und 40. Lebensjahr nach akuten Viruserkrankungen auftreten, zum Beispiel Covid-19, Influenza oder durch das Epstein-Barr-Virus. Es gibt sehr klare und eindeutige Kriterien für die klinische Diagnostik, erklärte Kathryn Hoffmann von der Abteilung für Primary Care Medicine an der Medizinischen Universität Wien. Das wichtigste Symptom ist physiologischer (körperlicher) Energiemangel, der Fachausdruck hierfür ist Post-Exertional Malaise/PEM. Zusätzlich treten Schlafstörungen auf sowie Schmerzen, kognitive Beeinträchtigungen und extreme Reizempfindlichkeit etwa gegenüber Licht, Geräuschen sowie Berührungen. Nerven-, Immun- und Hormonsystem können davon gleichermaßen geschädigt sein.

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In Österreich gibt es laut Schätzungen 26.000 bis 80.000 Betroffene. Rund zwei Drittel von ihnen sind nicht arbeitsfähig, ein Viertel ist sogar bettlägerig. Durch den PEM-Energiemangel kommt es bei den Patienten oft nach geringer Anstrengung zu einer sehr deutlichen Verschlechterung des Zustandes, die nicht durch Ruhe besser wird, so der Wiener Neurologe Michael Stingl. Deshalb sollten sie im Gegensatz zu Menschen mit anderen Erschöpfungserkrankungen keine Trainings- oder Aktivierungstherapie bekommen. Weil ME/CFS bisher kein verpflichtender Teil der medizinischen Ausbildung ist und auch im Rahmen der ärztlichen Weiterbildung oft vernachlässigt wird, komme es häufig zur Verwechslung und Vermischung von ME/CFS mit anderen körperlichen und psychiatrischen Erkrankungen, berichteten die Mediziner. Es gäbe auch keine zugelassenen Medikamente.

„Die aktuelle medizinische und soziale Versorgungssituation für ME/CFS-Patientinnen und -Patienten in Österreich ist inakzeptabel“, sagte Hoffmann: „Es fehlt an spezialisierten Behandlungszentren und Krankenhausbetten, wo die medizinischen Bedürfnisse dieser Patientinnen und Patienten gut diagnostiziert und behandelt werden können.“ Die Zahl dieser Anlaufstellen im öffentlichen Gesundheitssystem in Österreich sei derzeit null.

Stingl berichtete, dass seine Ordination durch den großen Andrang von ME/CFS-Patienten zunehmend überlaufen ist, weil es keine „Konkurrenz“ gibt, die sich probat um sie kümmert. Es wurde jedoch heuer ein ME/CFS-Praxisleitfaden mit „wissenschaftlich hochwertigen Empfehlungen“ als Orientierungshilfe für Ärzte herausgebracht, sowie Konsensus-Statements zur Diagnostik und Behandlung von ME/CFS.

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Seit acht Jahren ist seine Familie „mit dem Kürzel ME/CFS konfrontiert“, sagte der Bäckerei-Unternehmer Gerhard Ströck. Bei seinem erwachsenen Sohn Christoph diagnostizierten damals Mediziner der Universität Stanford in den USA jene Krankheit. „In Österreich wurde er zuvor zwei Jahre lang auf Depressionen behandelt“, berichtete Ströck. 2018 erkrankte Sohn Philipp an denselben Symptomen. Beide seien arbeitsunfähig.

Die Erkrankung befällt die Menschen „mehrheitlich in der Mitte ihres Lebens“, hieß es. Deshalb entstünde auch monetärer Schaden, den man an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) mit rund 2,75 Milliarden Euro geschätzt habe. Eine Investition in Behandlungsstrukturen und die Erforschung eines Heilmittels würden sich demnach sowohl für die Betroffenen als auch für die Volkswirtschaft auszahlen.

Ströck bemängelte, dass die Patienten durch „Teile der Ärzteschaft und etliche Politiker in Bund und Ländern sowie Zuständige in den Krankenkassen“ nicht ernst genommen würden. Mit seiner Ehepartnerin Gabriele Ströck habe er deshalb die WE&ME Foundation (eine Betroffenen-Organisation, Anm.) gegründet, um mehr Grundlagenforschung zur Krankheit und eine bessere Betreuung der Betroffenen zu ermöglichen.

Diese Organisation gab eine repräsentative Befragung zur Wahrnehmung und der Verbreitung von ME/CFS in der österreichischen Bevölkerung in Auftrag. Das Foresight-Institut fand dabei heraus, dass 30 Prozent der Menschen hierzulande länger anhaltende Gesundheitsprobleme nach Infektionen hatten, so Christoph Hofinger (Foresight): „Sieben Prozent der Gesamtbevölkerung sind davon bis heute betroffen.“ Eine halbe Million Menschen in Österreich würden demnach als Folge von zurückliegenden Infektionen aktuell mit starken Gesundheitsproblemen kämpfen.

Eine große Mehrheit (84 Prozent) der Bevölkerung nehme ME/CFS als ernst zu nehmende Erkrankung wahr und meine, dass sie jeden treffen könnte (74 Prozent), so Hofinger. Die Hälfte der Befragten sorgte sich, dass man bei einer solchen Erkrankung keine schnelle Hilfe und somit zeitnahe Besserung erwarten kann. Die Menschen forderten laut der Umfrage deshalb mehrheitlich bessere Unterstützung von Betroffenen. Der ehemalige Gesundheitsminister Rudolf Anschober appellierte an seinen Nachfolger und den Rest der Bundesregierung, rasch „wirksame Forschungsinvestitionen in ME/CFS und eine effiziente soziale Absicherung der Betroffenen zu verwirklichen“. Zudem sollten die Bundesländer jeweils mindestens ein entsprechendes medizinisches Kompetenzzentrum einrichten.

Der ME/CFS-Praxisleitfaden und das DACH-Konsensus-Statements zu ME/CFS im Internet – zenodo.org, link.springer.com

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