Pflegerin von Vernachlässigung von 96-Jährigem freigesprochen

Die Problematik, die die Pflege von Menschen mit sich bringt, war am Freitag am Wiener Landesgericht Thema bei einem Strafprozess. Eine Pflegerin war angeklagt, weil sie bei der Betreuung eines 96-jährigen Wieners nicht die notwendige Sorgfalt an den Tag gelegt haben soll. Der Mann erlitt in ihrer Obhut einen offenen Dekubitus, der mit der Zeit immer schlimmer wurde. Die Frau wurde – nicht rechtskräftig – freigesprochen.

Die Frau war im Juni 2021 nur die Urlaubsvertretung für eine Kollegin und hatte erst im Jahr davor die Ausbildung zur Sozialassistentbetreuung in Bulgarien gemacht, weil sie in ihrer Heimat in ihrem ursprünglichen Beruf im Tourismus aufgrund der Pandemie keine Jobs mehr bekam. Eigentlich wäre die 68-Jährige schon im Pensionsalter gewesen, aber in Bulgarien wäre die Pension in der Höhe von etwa 200 Euro zu wenig zum Leben gewesen.

Am 5. Juli reiste die Frau nach Wien, um im Auftrag einer großen Organisation die 24-Stunden-Pflege des 96-Jährigen für einen Monat zu übernehmen. „Ich hätte alles Notwendige für meinen Aufenthalt vorfinden sollen, leider war es nicht so“, berichtete die Beschuldigte, die wegen Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen angeklagt war. Schnell wurde ihr klar, dass sie mit der Pflege überfordert war. „Aber ich bin ein verantwortungsvoller Menschen und wollte den ganzen Monat fertig machen“, sagte die Angeklagte. „Ich habe Willenskraft.“

Mehrfach musste sie in der Nacht aufstehen, weil der 96-Jährige vor Schmerzen schrie. Sie informierte ihre Vorgesetzte über die Zustände, auch die Verwandten des gebrechlichen Mannes wurden darüber in Kenntnis gesetzt. „Er sagte, dass er überall Schmerzen hat“, sagte die Frau, aber ein Arzt sei die ganze Zeit über nicht gekommen, meinte sie.

Auch eine Nachbarin bekam die Probleme mit, weil sie am 25. Juli in den frühen Morgenstunden Hilfeschreie des Pensionisten hörte. Als sie in die Räumlichkeiten des 96-Jährigen kam, berichtete er, dass er starke Schmerzen hätte. Die Pflegerin kam hinzu und sagte, dass sich der Mann weigere zu trinken und seine Tabletten zu nehmen. Mithilfe der Nachbarin konnten dann die notwendigen Medikamente verabreicht werden.

Am nächsten Tag beobachtete die Hausbewohnerin, wie die Pflegerin den Pensionisten „in einem fordernden Ton“ zum Aufstehen bringen wollte. Weil er sich weigerte, soll die Betreuerin den 96-Jährigen mit beiden Händen ins Bett geschubst haben. Die Nachbarin schrie: „Was machen Sie da?“ Es sei „ein Akt gewesen, der nicht professionell und sehr brutal war“. Daraufhin meldete die Nachbarin den Fall bei der Familie, die aus dem Urlaub anreiste, um nach dem Rechten zu sehen.

Dabei wurden die offenen Wunden am Steißbein des Pensionisten entdeckt. Der Vorwurf an die Frau ist, dass sie sich nicht genügend um die Körperpflege des Mannes gekümmert und ihn nicht genügend mobilisiert habe. Die Großnichte des Mannes bemerkte bei ihrem Besuch, dass das Bett trotz der von dem Pensionisten getragenen Windel komplett nass war. Ihr Onkel habe am Körper blaue Flecken, rote und offene Stellen gehabt. „Es kann ja in der Nacht mal was passieren“, aber es sei „offensichtlich“ gewesen, dass hier die Situation schon länger angehalten habe. „Es ist nichts, was schnell passiert“, sagte die Frau im Zeugenstand.

„Er hatte Angst vor ihr“, sagte die Großnichte. Er sei in der Zeit, in der die 68-Jährige bei ihm war, zunehmend verwirrt geworden, deutlich abgemagert und hat gejammert und gewimmert. Ihr Mann berichtete sogar, dass der 96-Jährige meinte: „Das Teufelsweib ist so grob.“

Die Vorgesetzte, die sich zwei Mal ein Bild von der Lage machte, sprach von einer „schwierigen Betreuungssituation“, da es im gesamten Haus Umbauarbeiten gab. Dem 96-Jährigen und der Pflegerin standen lediglich ein kleines Schlafzimmer, Wohnzimmer und Küche zur Verfügung. Sie habe allerdings im Vorfeld nichts von wund gelegenen Stellen bemerkt, habe zwei Mal eine Hautkontrolle durchgeführt. Die Frau wurde in dem Fall ursprünglich auch als Beschuldigte geführt, ihr Verfahren wurde jedoch eingestellt.

Der Hausarzt meinte im Zeugenstand, dass er den Mann wenige Wochen davor noch gesehen habe. Er sei teilmobil und geistig völlig fit gewesen. „Er hat den Kindern in der Familie noch bei den Hausaufgaben geholfen“, sagte der Mediziner.

Laut einer Sachverständigen könne ein Dekubitus auch innerhalb kurzer Zeit – ein, zwei bis drei Tage – entstehen. Das kommt auf den Ernährungszustand, die körperliche Verfassung und wie oft Körperhygiene und Lageänderung des Körpers vorgenommen wird an. Für Richter Christian Gneist lag kein bedingter Vorsatz vor, den Mann zu quälen. Auch ein später hinzugezogenes Wundmanagement konnte den Dekubitus nicht in den Griff bekommen. Wenige Tage später starb der 96-Jährige. „Es bleibt ein Zweifel, was wirklich passiert ist“, so Gneist.

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