Corona-Tagebücher & Co. – Heimische Autoren verarbeiten Krise in Echtzeit

Wie sich der Ausnahmezustand aufgrund des Coronavirus auf das tägliche Leben und die Verfassung der Gesellschaft auswirkt, protokollieren derzeit zahlreiche Autorinnen und Autoren. Bekanntestes Projekt sind wohl die „Corona-Tagebücher“, die das Literaturhaus Graz ins Leben gerufen hat. Aber auch die Autoren des Residenz-Verlags bloggen, Thomas Glavinic schreibt ein Tagebuch für „Die Welt“.

Oft arbeiten Schriftsteller jahrelang an ihren Texten, bevor sie in Buchform zu den Lesern kommen. Die aktuellen Ausgangsbeschränkungen haben jedoch zu einem Stillstand im für die Literatur so wichtigen Veranstaltungsbetrieb geführt.

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Das Literaturhaus Graz hat schnell reagiert und liefert seit dem 20. März die „Corona Tagebücher“ frei auf den Bildschirm: Mit dabei sind Autorinnen wie Bettina Balàka, Bachmannpreisträgerin Birgit Birnbacher, Nava Ebrahimi, Monika Helfer, Michael Stavaric oder Daniel Wisser. Insgesamt sind 18 Schriftsteller vertreten, die das Literaturhaus auf Basis des ursprünglich geplanten Programms ausgesucht hat. Die Beiträge werden jeden Freitag in ihrer Gesamtheit als PDF veröffentlicht, dazu kommt eine redaktionell betreute Kurzvariante der Ergebnisse (http://www.literaturhaus-graz.at/die-corona-tagebuecher/).

Der Corona-Krise mit Humor begegnen

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Dass die Autoren dabei durchaus Humor beweisen, zeigt sich bereits beim ersten Eintrag Birnbachers vom 11. März: „ein freund hat immer gesagt, eine erscheinung im frühjahrsprogramm sei eine schlechte idee. aus gegenwärtiger sicht würde ich zustimmen“, heißt es da. Thomas Stangl fragt sich, ob er den Ausnahmezustand „ausbeuten“ darf, Michael Stavaric macht auf seine aktuellen Einkommenseinbußen aufmerksam – sein jüngster Roman „Fremdes Licht“ ist ausgerechnet kurz vor der Krise erschienen. Valerie Fritsch, deren Roman „Herzklappen von Johnson & Johnson“ ebenfalls frisch auf dem Markt ist, philosophiert über das nun herrschende „Menschenvakuum“, von Daniel Wisser erfährt man, dass er „einen Tag NUR mit Tschechow verbracht“ hat. Nachsatz: „Wunderbar. Als ich das Buch weglege, frage ich mich, ob es wirklich eine Pandemie gibt. Erste Reaktion: Nein“.

Gar einen täglichen Fortsetzungsroman gibt es von Thomas Glavinic: „Die Welt“ veröffentlicht täglich einen Auszugs des „Hypochonders“ Glavinic. Auch er nimmt es mit Humor, wie es im Eintrag vom 19. März heißt: „Im Kampf zwischen meinem Verdrängungstalent und meiner ausgeprägten Beobachtungsgabe obsiegte leider letztere, und deshalb ist es mir nicht entgangen, dass ich wegen einer Pandemie, die entgegen den Beteuerungen offizieller Stellen unter gewissen Umständen durchaus das Zeug hätte, einen nicht unbeträchtlichen Teil der Weltbevölkerung zu töten, so wie alle anderen Österreicher zuhause unter vorbeugender Quarantäne stehe, was jemand, der so wie ich das Haus nach Möglichkeit sowieso nicht verlässt, tatsächlich erst einmal bemerken muss.“ (Teil 1 unter http://go.apa.at/p04UGvsn).

Unter dem Hashtag #alleswirdgut bietet auch der Residenz-Verlag frische Texte seiner Autorinnen und Autoren, die „aus ihren Wohnungen und Wohnwägen, aus Wien und Graz, London und Berlin, aus Europa und Afrika“ bloggen. Entstehen soll so im Laufe der Zeit eine „vielstimmige Chronik“. Dort macht sich etwa Peter Rosei Gedanken über die Neudefinition des Normalzustands: „Normalisierung – was das ist, wird neu zu definieren sein. Sparen – das kommt später. Dann wird sich vor allem die Frage stellen, wo gespart werden soll und auf wessen Kosten“, so der Autor am 26. März. „Einen schönen Tag aus dem Hausarrest, oder wie man heute sagt, dem Home-Office“, wünscht Robert Misik, der über „Die pandemische Gesellschaft“ schreibt. Clemens Berger schreibt einen Brief an seine Tochter, der so beginnt: „Der letzte Tag in der Freiheit, wie wir sie kannten, fiel auf einen ungewöhnlich warmen Donnerstag Mitte März.“ Susanne Scholl versucht unterdessen, das Gute zu sehen: „Ja, natürlich – diese ewigen Appelle, zu Hause zu bleiben, gehen uns schon auf die Nerven“, schreibt sie am 24. März. „Aber – Hand aufs Herz – ist es nicht eigentlich wunderbar, dass man gar nicht mehr nach einer Ausrede suchen muss, um faul zu sein?“ (#alleswirdgut unter https://www.residenzverlag.com/blog).

Ein Journal der anderen Art bietet das Literaturhaus am Inn: Auf dessen Website veröffentlicht der Autor Robert Prosser seit einer Woche sein „Journal aus Beirut“. Was das mit Corona zu tun hat, macht er im ersten Eintrag deutlich, in dem er über den Beginn seiner Beirut-Reise im vergangenen Sommer erzählt: „Gewissermaßen ähnelt die jetzige Situation jener, in der sich etliche der Menschen befanden, denen wir damals begegnet sind. Die eigene Lage aber gestaltet sich im Vergleich privilegiert; Ausgangssperren und die Verdammnis zum Ausharren in einer Wohnung können bedrohlichere Anlässe haben als die aktuellen Vorsichtsmaßnahmen aufgrund von Covid-19.“ (Journal unter https://www.literaturhaus-am-inn.at/blog-von-robert-prosser/)

Auch heimische Tageszeitungen bieten Autoren Raum, so etwa das „Album“ des „Standard“: Marlene Streeruwitz veröffentlichte dort am Wochenende die Episoden 1 bis 3 der ersten Staffel ihres Corona-Romans „So ist die Welt geworden“, der in ungekürzter Form auch jeden Donnerstag neu auf ihrer Website (www.marlenestreeruwitz.at) erscheint. Ihrer Protagonistin Barbara (Betty) A. legt sie gewohnt politische Worte in den Mund: „Und hatte der sich nicht wie Waldheim bewegt? Und wie konnte dieser Mann so fürsorglich wegen der Risikogruppe an alle appellieren und zur gleichen Zeit den Flüchtenden die Frontex an den Hals schicken?“. Ebenfalls im „Album“ philosophiert Tex Rubinowitz gewohnt pointiert unter dem Titel „Das hier ist der Warteraum“ über das Leben in der Isolation und die neue Bedeutung des Einkaufengehens: „Einkaufen ersetzt Kirchen, Kinos und Theater, Ausgehen und Verabredungen, dass Einkaufen jetzt plötzlich sichtbar macht, wie es Einsamen geht, wenn alle Sozialkontakte weggebrochen sind, aus welchen Gründen auch immer.“

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