Coronavirus: Was bedeutet das ungarische Notlagegesetz?

Inmitten der Coronavirus-Krise hat die rechtsnationale ungarische Regierung im Parlament einen Gesetzesentwurf eingebracht, das ein Regieren mittels Dekret auf unbestimmte Zeit ermöglichen soll.

Das ungarische Grundgesetz definiert eine Reihe verschiedener möglicher Ausnahmesituationen und Notlagen.

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Eine davon ist die „Gefahrensituation“ (veszélyhelyzet), die laut Paragraf 53 Grundgesetz bei Naturkatastrophen oder industriellen Katastrophen erklärt werden kann. Diese ermöglicht der Regierung weitreichende Vollmachten.

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Eine „Gefahrensituation“ wurde am 11. März aufgrund der COVID19-Epidemie deklariert, läuft jedoch am 26. März aus. Nun soll das Parlament der Regierung eine künftige pauschale Erlaubnis zum Regieren mittels Dekret „bis zum Ende der Gefahrensituation“ erteilen, ohne dass parlamentarische Prüfungstermine für eine weitere Notwendigkeit vorgesehen wären.

Der Entwurf ist auf heftige Kritik aus dem In- und Ausland gestoßen. Insbesondere wurde kritisiert, dass die Regierung damit auf unabsehbare Zeit ohne jegliche parlamentarische Kontrolle agieren kann. Laut Grundgesetz (Par. 54 (3)) ist nämlich die Regierung die befugte Institution, um ein Ende der „außergewöhnlichen Rechtslage“ (in diesem Fall der „Gefahrensituation“) zu beschließen.

Obwohl rechtlich nach Ansicht von Verfassungsjuristen auch das Parlament diesbezüglich aktiv werden könnte, ist das nach Ansicht des Budapester Rechtsprofessors Zoltan Fleck von der Eötvös-Lorand-Universität und der liberalen Denkfabrik Karoly-Eötvös-Institut angesichts der Zwei-Drittel-Mehrheit der ungarischen Regierungspartei Fidesz kaum zu erwarten.

„Das Parlament hat die Regierung bisher auch nicht wirklich kontrolliert“, erinnert Fleck im Gespräch mit der APA. Gleichzeitig verweist er darauf, dass nach Meinung mancher Analysten die Regierung womöglich ihren eigenen Abgeordneten nicht mehr vollkommen traue und deshalb diese Maßnahmen durchbringen wolle.

„Das Parlament wird völlig ausgeschaltet“, fasst Fleck das Wesentliche des Gesetzesentwurfs zusammen. Es könne zwar weiterhin Sitzungen abhalten, doch die Regierung dürfe unabhängig davon agieren wie sie will. „Das Parlament ist nicht mehr notwendig.“

Fleck betont: „In einem geschwächten Rechtsstaat sind außergewöhnliche Ermächtigungen immer sehr gefährlich.“ Er erinnert daran, dass genau vor 87 Jahren, am 23. März 1933, der Deutsche Reichstag das bekannte Ermächtigungsgesetz beschloss, mit dem die Gewaltenteilung in Deutschland faktisch aufgehoben und die gesetzliche Grundlage für die nationalsozialistische Diktatur unter Adolf Hitler gelegt wurde.

An diese Parallele erinnerten auch andere Kritiker des Gesetzes. Der bekannte Philosoph und politische Kommentator Gaspar Miklos Tamas sprach in einem Beitrag für das Online-Portal der Wochenzeitung „hvg“ gar von der „formellen Einführung der Diktatur“ im wörtlichen Sinn, d. h. des Regierens mittels Diktat.

Vizeminister Balazs Orban vom Amt des Ministerpräsidenten (kein Verwandter des Regierungschefs) argumentierte gegen die Kritik, die Vorlage lege deshalb keinen konkreten Zeitpunkt für ein Ende der Ermächtigung fest, weil „das Ende der Epidemie noch nicht absehbar ist“, wie er in einem Beitrag für das regierungsunabhängige Nachrichtenportal „Index.hu“ schrieb. Vielmehr werde die „Gefahrensituation“ so lange dauern, „bis die Regierung oder das Parlament etwas anderes bestimmt“. Die Ermächtigung der Regierung könne vom Parlament jedoch „jederzeit – ich wiederhole: jederzeit!“ wieder zurückgezogen werden, betonte der Vizeminister.

Die US-Politologieprofessorin und Ungarn-Expertin Kim Lane Scheppele von der Universität Princeton analysierte, der Gesetzesentwurf sehe zwar in Par. 3 (2) vor, dass das Parlament die Ermächtigung der Regierung wieder zurückziehen kann, bestätige in Pkt. (3) jedoch diese Ermächtigung erneut, schrieb sie auf ihrer Webseite.

„Die Demokratie ist für die Dauer (der Notlage, Anm.) suspendiert“, weist Lane Scheppele außerdem auf die Aussetzung von Wahlen und Volksabstimmungen während der „Gefahrensituation“ laut der Vorlage hin. „Und die Notlage hat kein Enddatum. Das Grundgesetz erklärt, dass die Notlage enden muss, wenn die Krise endet, aber die Entscheidung über diesen Zeitpunkt ist dem Premierminister (Viktor Orban, Anm.) überlassen.“

Mehrere Menschenrechts- und Rechtsschutzorganisationen wie Amnesty International Ungarn, das ungarische Helsinki-Komitee und das Karoly-Eötvös-Institut forderten in diesem Zusammenhang in einer gemeinsamen Erklärung, die Anrufungsmöglichkeiten des Verfassungsgerichtshofes zu erweitern und schnellere Verfahren zu ermöglichen. Das sollte eine verfassungsrechtliche Kontrolle auch in einer Notlage ermöglichen.

Heftige Kritik zogen außerdem zwei geplante Änderungen im Strafgesetzbuch nach sich, die die „Behinderung der Epidemiebekämpfungsmaßnahmen“ und die „Verbreitung von Falschnachrichten“ mit mehrjährigen Gefängnisstrafen bedrohten. Kritiker warnten davor, dass damit dem Einschreiten des Staates gegen die freie Presse Tür und Tor geöffnet würde.

Universitätsprofessor Fleck hält die angekündigten Strafen zudem für „unverhältnismäßig“ und die Definition dessen, welche Nachrichtenverbreitung strafbar sei, für zu „vage“. Er warnte zudem, dass derart außergewöhnliche Vorschriften wie in der Vorlage angedacht „schwer rückgängig zu machen“ seien.

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