„Danach waren sie keine Kinder mehr“

Filmretrospektive Mauthausen widmet sich den „Kindern in der Shoa“

Filmszenen aus „Auf Wiedersehen Kinder“ (l) von Louis Malle und dem russischen Film „Annas Krieg“
Filmszenen aus „Auf Wiedersehen Kinder“ (l) von Louis Malle © Mauthausen Memorial

Seit 2005 kuratiert Universitätsprofessor Frank Stern, Kultur- und Filmhistoriker, der an der Uni Wien lehrt, die jährliche Open-Air Filmreihe vor der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. „Die Filme, die ich dafür auswähle, beziehen sich auf Rassismus, auf Antisemitismus, auf den Nationalsozialismus, auf die Diskriminierung und Verfolgung von Menschengruppen während des Dritten Reiches“, sagt Stern im VOLKSBLATT-Gespräch. Die Spielfilme stellen die Verantwortung des Einzelnen ins Zentrum. „Kinder in der Shoa. Zwischen Verfolgung, Gleichgültigkeit und Solidarität“ lautet das Thema, unter dem von heute bis 21. August (jeweils 20 Uhr) vier Filme laufen.

Versteckt, verfolgt, allein gelassen, ermordet

Der Klassiker „Auf Wiedersehen Kinder“ aus 1987 von Louis Malle, mit dem die Retrospektive heute startet, basiert auf eigenen Erfahrungen des Regisseurs während der Nazi-Zeit. Erzählt wird die Geschichte eines jüdischen Buben, der in einem katholischen Internat vor den Nazis versteckt wird.

Die weiteren Werke stammen aus der jüngeren Zeit. „,Annas Krieg´ aus 2018 ist einer der am besten gelungenen russischen Filme der letzten Jahre und zeigt ein sechsjähriges Mädchen, das nach einem Massaker allein auf sich gestellt weiterleben muss – gespielt von einer Sechsjährigen, die eigentlich einen Oscar dafür hätte bekommen müssen“, sagt Stern. „Sarahs Schlüssel“ (2010) spielt in Paris und erzählt das „hochgradig brutale und terroristische Unternehmen“ der deutschen Besatzer und der französischen Kollaborateure, die Pariser Juden in einem Stadion zu versammeln und sie zu deportieren. „Ein schöner, sehr nachdenklich machender Film.“

Nach den Plänen der Nazis sollte es keine jüdische Nachkriegsgeneration mehr geben. Über eine Million Kinder unterschiedlicher Herkunft wurden gleich nach ihrer Ankunft in Lagern in die Gaskammern geschickt, Neugeborene von Wachmannschaften erschlagen oder von Ärzten im Rahmen von bestialischen Versuchen getötet. Stern: „Die Todesmaschinerie der Nazis war perfekt, effizient und ist mit nichts zu vergleichen.“ Jugendliche machten sich älter, um zum Arbeitsdienst zu kommen und so zumindest noch eine Zeit lang zu überleben. „Manche der befreiten Kinder wussten später nicht mehr, wie alt sie sind“, erzählt Stern.

Zu den Geretteten gehörten die Kinder von Windermere

Trotz allem hat es Überlebende gegeben. In allen Lagern haben Menschen unter größter Gefahr versucht, vor allem kleine Kinder zu retten, „die nächste Generation, die die Erinnerung weitertragen sollte“, wie Stern sagt. Zu den Geretteten gehörten die Kinder von Windermere, 100 Kinder, die nach dem Krieg auf einem britischen Landsitz aufgenommen wurden, wo man versuchte, ihre seelischen und körperlichen Wunden zu heilen. 90 Prozent hatten keine Angehörigen mehr.

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Ihre Geschichte erzählt der gleichnamige Film „Die Kinder von Windermere“ aus 2020. Was in Windermere geschah — ein Tropfen auf dem heißen Stein. „Nach 45 gab es Hunderttausende, die durch Europa irrten, in Sammellagern versuchten, Verwandte zu finden. Wenn wir davon ausgehen, dann ist das auch eine Geschichte davon, wie die europäischen Gesellschaften abgesehen von kleinen Ansätzen wie hier in England nach dem Krieg, versagt haben mit der Hilfe für diejenigen, die vorher vertrieben wurden“, sagt Stern.

„Ganz Europa hat nach 1945 versagt“

„Im Kopf, in ihren Gefühlen waren diese Kinder keine Kinder mehr, sie waren geschändete, vielfach auch sexuell missbrauchte junge Menschen“, so Stern. Viele Kinder, die Konzentrationslager überlebt hatten, begingen in den 50er-Jahren Selbstmord. „Sie sind nicht klargekommen damit, dass sie keine Familie hatten und keine Kindheitserinnerungen.“ Es habe nach ’45 keine Therapie gegeben, die einer derartigen Traumatisierung gerecht werden hätte können. Erst Jahre später seien Phänomene wie das Überlebensschuld-Syndrom, unter dem viele ehemalige KZ-Häftlinge litten, erkannt worden. „Es gab keine umfassende Institution in Deutschland, Österreich oder Frankreich, die sich darum gekümmert hat. Ganz Europa hat versagt.“

  • Vor den Filmen führt Frank Stern mit einem kurzen Vortrag ins Thema ein, im Anschluss wird zur Diskussion gebeten. Bei Schlechtwetter werden die Filme im angrenzenden Besucherraum gezeigt. Der Eintritt ist frei. Info und Anmeldung: Tel. 01/376 3000-121 oder online unter www.mauthausen.memorial.org
    Von Melanie Wagenhofer

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