Bau des neuen Energiesystems ist Operation am offenen Herzen

Beim Umstieg auf Erneuerbare muss man stets Netze und Reserven mitbedenken, betont Verbund-Chef Michael Strugl

Bildtext
Verbund-Chef Michael Strugl © Verbund/Jungwirth

Warum man in der Wirtschaft mitunter fairer beurteilt wird als in der Politik, Versorgungssicherheit im Strombereich kein Selbstläufer ist und der Ausbau erneuerbarer Energiequellen einer Operation am offenen Herzen gleicht: Darüber spricht Verbund-Chef Michael Strugl im Interview.

VOLKSBLATT: Sie haben Regierungsverantwortung getragen und sind jetzt Chef von Österreichs führendem Elektrizitätsversorger. Gibt es Unterschiede bei Verantwortung und Führungsstil in Politik und Wirtschaft?

STRUGL: Natürlich ist es ein Unterschied, ob man Regierungsverantwortung trägt oder in einem börsenotierten Konzern für Ergebnisse verantwortlich ist. Die Wirtschaft ist sehr rational, zahlengetrieben, messbar und insofern sehr gerecht und transparent. In der Politik ist viel Stimmung. Da ist es sehr schwierig zu planen, es muss immer in Echtzeit reagiert werden. Daher ist auch die Beurteilung oft weniger objektiv. Ich möchte aber keinen Tag in der Politik missen.

Ist Ihre jetzige Position dennoch Ihr Traumjob?

Absolut. Ich habe immer gesagt, ich sehe Politik als Engagement auf Zeit, ebenso wie die geliehene Macht. Ich bin von meiner Ausbildung und meinem Hintergrund her wirtschaftlich orientiert. Ich wollte immer Verantwortung in einem Unternehmen übernehmen, möglichst mit einem internationalen Ansatz. Und aufgrund meiner früheren politischen Tätigkeit kenne ich die Energiebranche und die Regulatorik.

Das Erneuerbaren-Ausbaugesetz sieht vor, dass bis 2030 Strom zumindest bilanziell zu 100 Prozent aus erneuerbaren Quellen kommt. Für wie realistisch halten Sie dieses Ziel?

Es wird immer schwieriger. Das Gesetz ist ja noch nicht in Rechtskraft. Es kommt mit Verspätung. Auch bei Inkrafttreten am 1. Jänner wäre das Ziel hochambitioniert gewesen. Aber ob man bis 2030 zu 100 Prozent Strom aus erneuerbaren Quellen hat oder 95 oder 90 Prozent, ist für mich nicht entscheidend. Entscheidend wird sein, dass der Umbau des Energiesystems so passiert, dass die Versorgungssicherheit nicht gefährdet wird.

Wie kann man das gewährleisten?

Das bedeutet, wir müssen mit jeder zusätzlichen Erzeugungseinheit, ob Windkraft oder Solarpark, zeitlich synchron und regional abgestimmt die Netze ausbauen. Und wir müssen uns den Kopf darüber zerbrechen, welche zusätzlichen Flexibilitäts- und Speicheroptionen wir schaffen. Je mehr volatile Erzeugung wir ins System integrieren, desto wichtiger werden diese Fragen.

Was braucht es noch für Versorgungssicherheit?

Es braucht Reservekapazitäten. 100 Prozent erneuerbare Erzeugung ist etwas, das bilanziell funktionieren kann. In einem Markt wird man noch sehr lange auch fossile Erzeugung benötigen. In Österreich haben wir zwar 2020 die letzte Kohle-Verstromung abgestellt, haben aber als Verbund das leistungsstärkste Gaskraftwerk Österreichs mit fast 1000 MW, das in der Netzreserve kontrahiert wird. Gas wird als stabilisierende Brückentechnologie noch sehr lange tätig sein, und Gas wird im Laufe der Zeit auch immer grüner werden.

Für wie groß halten Sie die Gefahr eines Blackouts in Europa?

Mit dem Umbau des Systems steigt auch die Vulnerabilität. Dieser Umbau gleicht einer Operation am offenen Herzen, denn wir können ja nicht die Stromversorgung wegen Umbaus vorübergehend schließen. Das ist eine große Herausforderung für das Management des Systems. Erzeugung und Verbrauch müssen immer in der Waage sein. Eine Abweichung wie am 8. Jänner in Europa führt zu Überlastungen und Notabschaltungen von Anlagen. Dann braucht man Regelreserven, bei uns sind das vor allem Wasserkraftwerke und eine große Batterie, die wir erst im Sommer in Wallsee-Mitterkirchen in Betrieb genommen haben. Das hat im Jänner hervorragend funktioniert.

Also ist alles gut?

Es braucht in der Planung des Umbaus einen gesamthaften Ansatz. Mehr Windräder und Solaranlangen reichen nicht. Man muss systemisch Netz und Speicher mitdenken. Und das kostet auch etwas und ist nicht einfach zu realisieren. Wir werden etwa zehn Terrawattstunden Speichermenge brauchen, die wir saisonal vom Sommer in den Winter verschieben müssen, weil wir im Winter zu wenig Erzeugung haben werden. Da ist noch ein langer Weg zu gehen. Man sollte bei allen energiepolitischen Gesetzen überlegen: Was bedeutet das für die Versorgungssicherheit? Diese wird nicht zum Nulltarif zu haben sein.

Was kann das für die Strompreis-Entwicklung bedeuten?

Wenn man Netze ausbaut, dann wird mehr investiert und dann wird der Tarif höher. Denn ein Teil ist der Netztarif, neben dem Energiepreis sowie Steuern und Abgaben. Und die Netze stehen vor einer Investitionswelle, unter anderem wegen dezentraler Erzeugung mit Wind und Solar. Es gibt auch internationale Faktoren wie die CO2-Bepreisung. Wir gehen davon aus, dass Strompreise in den kommenden Jahren moderat steigen werden.

Die Verbund AG hat hohe Investitionen angekündigt. Wird es auch Akquisitionen geben?

Wir haben unsere Investitionspläne für die kommenden drei Jahre von 2,3 Milliarden Euro vorgestellt. Dazu kommen 500 Millionen für die zwei ausgewählten Projekte Limberg drei und Reiseck zwei plus. Wir wollen unter anderem wachsen bei Photovoltaik und Wind. Das kann organisch passieren, kann aber auch durch Zukäufe passieren.

Wie hat Corona den Stromverbrauch geändert?

Insgesamt haben wir im vergangenen Jahr 3,5 Prozent weniger Stromverbrauch gehabt. Während des ersten Lockdowns waren es minus 15 Prozent, vor allem getrieben durch die Industrie. Die Haushalte haben durch Home-Office & Co. mehr gebraucht. Wir kommen aber nicht in die Verlegenheit, einen Teil unserer Erzeugung nicht verkaufen zu können.

Wie geht Verbund mit Corona um?

Das ist für ein Unternehmen mit rund 3000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit sehr vielen Standorten in Österreich und Deutschland natürlich eine Herausforderung. Wir haben praktisch über ein Wochenende 1300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ins Home-Office übersiedelt. Das hat super funktioniert. Wir haben für alle Standorte Schutzmaßnahmen entwickelt. Wir arbeiten bis heute mit Team-Splittings und haben eine eigene Teststrategie mit Teststraßen. Und alle unsere Leute haben Selbsttests bekommen. Das handhaben wir sehr streng. Denn bei der kritischen Infrastruktur darf man sich nichts erlauben.

Mit Verbund-Chef MICHAEL STRUGL sprach Christian Haubner

Das könnte Sie auch interessieren