Der zerstörte Traum von 1989

Putin versetzt der Hoffnung auf ein geeintes Europa in Frieden und Freiheit den Todesstoß

Juni 1989: Die Außenminister Alois Mock und Gyula Horn durchschneiden bei Sopron den Eisernen Vorhang — zum Missfallen eines KGB-Agenten in Ostberlin: Wladimir Putin, der als russischer Präsident nun das Rad der Geschichte zurückzudrehen versucht.
Juni 1989: Die Außenminister Alois Mock und Gyula Horn durchschneiden bei Sopron den Eisernen Vorhang — zum Missfallen eines KGB-Agenten in Ostberlin: Wladimir Putin, der als russischer Präsident nun das Rad der Geschichte zurückzudrehen versucht. © AP/Holzner - www.picturedesk.com

Was war das für eine Euphorie 1989, als Außenminister Alois Mock im Juni mit seinem ungarischen Amtskollegen Gyula Horn in Sopron den Eisernen Vorhang durchschnitt, im November in Berlin die Mauer fiel und unter ihren Trümmern das sowjetische Imperium begrub. Viele träumten mit Francis Fukuyama den Traum vom „Ende der Geschichte“. Freiheit und Demokratie haben gewonnen, die weltpolitischen Antagonismen sich in Wohlgefallen aufgelöst.

Die Balkan-Kriege der 1990er bewirkten die erste Katerstimmung, die 9/11-Apokalypse führte der freien Welt 2001 erschütternd vor Augen, dass die liberale Demokratie noch andere Konkurrenten hat. Und seit 2014 auf der Krim „grüne Männchen“ auftauchten, um die ukrainische Halbinsel heim ins russische Reich zu holen, dämmert uns: die Geschichte ist alles andere als zu Ende.

Seit Montagabend steht vielmehr dieses fest: Das Ende des Traumes von einem in Frieden und Freiheit geeinten Europa. Vielmehr erfüllt Wladimir Putin in der Ukraine die Breschnew-Doktrin von der begrenzten Souveränität der Staaten in der Nachbarschaft Moskaus mit neuem Leben.

Fehler des Westens…

Im Rückblick wird man nicht umhin kommen, auch Fehler des Westens anzusprechen. Hätte Michail Gorbatschows — schon Charles de Gaulle vorschwebende — Vision eines gemeinsamen Hauses Europa „vom Atlantik bis zum Ural“ nicht zielstrebiger verfolgt werden können? Mit etwas mehr Europa und EU, etwas weniger USA und Nato? Vielleicht wäre Moskauer Sowjet-Nostalgikern so Wind aus den Segeln genommen geworden. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.

… sind keine Entschuldigung

Niemand weiß, ob mehr Rücksichtnahme auf die Minderwertigkeitskomplexe einer Supermacht, deren Status nicht auf ökonomischer, sondern nur nuklearer Power basiert, die aktuelle Entwicklung hätte verhindern können. Fest steht aber, dass die westliche Politik keinerlei aggressiven Charakter hatte und daher völlig ungeeignet ist als Rechtfertigung für Putins Komplexkompensation in der Ukraine. Dass Kiew an der Kandare der USA nach Atomwaffen strebt, glaubt der Kremlchef doch selbst nicht. Das ist nur die versuchte Rechtfertigung des Bruches des Budapester Memorandums, in dem Russland 1994 der Ukraine (sowie Kasachstan und Weißrussland) im Gegenzug für die Übergabe der sowjetischen Atomwaffen die territorialen Integrität garantiert hatte.

Viel Geduld mit Putin

Diese Garantie hat Putin schon mit der Krim-Annexion kassiert. Realistischerweise — weil der Westen eben keine Dauerkonfrontation will — muss sich die Ukraine mit diesem Verlust abfinden, auch wenn er völkerrechtlich ungültig ist. Realistischerweise würde Kiew — unter Protest — langfristig sogar die de facto ohnehin schon Russland einverleibten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donez abschreiben (müssen), weil dem Westen die Ostukraine keine ewige Eiszeit wert ist. Irgendwann wären die von Putin geschaffenen Fakten zähneknirschend akzeptiert worden.

Doch der russische Präsident hat den Bogen am Montag überspannt, indem er gleich der gesamten Ukraine das staatliche Existenzrecht absprach. Damit hat Putin klargestellt, dass er, wenn er von „europäischer Sicherheitsarchitektur“ spricht, eine wie vor 1989 meint.

Europa und die USA können gar nicht mehr anders als hart zu reagieren, auch wenn der Kollateralschaden groß sein wird. Aber in Moskau gibt es keinen Partner mehr, mit dem sich tragfähige, nicht bloß faule Kompromisse schließen ließen. Putin trampelt auf allen Abkommen herum und düpiert jene Europäer, die um Verständnis für russische Sicherheitsbedürfnisse bemüht waren. Auch Österreich, das in seiner Brückenbaumeister-Ambition so manche Peinlichkeit (Stichwort: Kneissel-Knicks) und hochgezogene Augenbrauen weniger russophiler Akteure in Kauf nahm, machte Putin zum Deppen.

Der Traum von 1989 ist ausgeträumt. Solange dieser Mann im Kreml sitzt…

Eine Analyse von Manfred Maurer

Das könnte Sie auch interessieren