Die entscheidenden Stunden im April 1955

Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges flatterte am 24. März 1955 urplötzlich eine Einladung aus Moskau ins Wiener Bundeskanzleramt. Sie sollte zur Initialzündung für den Staatsvertrag werden. Eine österreichische Regierungsdelegation reiste zu Staatsvertrags-Verhandlungen nach Moskau.

Unterzeichnung des „Moskauer Memorandums“ durch Bundeskanzler Julius Raab V. l. n. r.: Josef Schoner, politischer Direktor des Außenministeriums, Botschafter Norbert Bischoff, Staatssekretär Bruno Kreisky, der russische Außenhandelsminister Anastas Mijokan, der russische Außenminister Wjatscheslaw Molotow, Vizekanzler Adolf Schärf © APA/Archiv Grubmayr/HPK

Dabei löste das Schreiben in der österreichischen Regierung zunächst Verwirrung und Chaos aus, wie sich der spätere Bundeskanzler und damalige Staatssekretär Bruno Kreisky in seinen Memoiren erinnert.

Niemand konnte die dahinterstehenden Absichten der Russen definitiv einordnen, niemand wagte an ernsthafte Staatsvertrags-Verhandlungen zu glauben.

Ostermontag ging’s los

Und doch: Am Ostermontag, 11. April 1955, machte sich eine österreichische Delegation auf den Weg: Bundeskanzler Julius Raab (ÖVP), Vizekanzler Adolf Schärf (SPÖ), Außenminister Leopold Figl (ÖVP) und Staatssekretär Bruno Kreisky (SPÖ). Wie groß deren Verunsicherung war, zeigt eine Episode vom Beginn der Reise:

Legende der „Spinnerin“

Zunächst hatten die Polit-Granden vereinbart, sich auf dem Weg zum Flugplatz Vöslau beim Wirtshaus „Spinnerin am Kreuz“ in Wien zu treffen, Figl plädierte dann aber für den Treffpunkt Linienamt in der Triesterstraße. Begründung: der Legende nach habe bei der „Spinnerin am Kreuz“ im Mittelalter eine Frau unendlich lang auf die Rückkehr ihres Mannes aus dem Kreuzzug warten müssen. Das wäre, so Figl, ein schlechtes Omen für den in ganz Österreich seit Kriegsende so sehnlich erwarteten Staatsvertrag.

Flug bei Wodka & Kaviar

In Vöslau angekommen, bestiegen die österreichischen Politiker ein von den Russen geschicktes Flugzeug, dessen Ausstattung Bruno Kreisky in seinen späteren Erinnerungen als „grotesk“ bezeichnet: „Perserteppiche auf dem Boden, gestickte Teppiche an den Wänden, rote Plüschmöbel und jede Menge Wodka und Kaviar im Angebot.“ Besorgt äußert sich Kreisky Jahre später aber über den Abflug (weil die Maschine nur mühsam Höhe gewann und ein Offizier bei geöffneter Tür beobachten musste, ob die Räder den Boden verließen), bewundernd äußert sich Kreisky dann aber über die Landekünste des Piloten (weil beim Aufsetzen in Moskau kein Glas auf den Bordtischen umgefallen war).

Ohne Wintermäntel

Bei der Ankunft in Moskau dann dichtes Schneetreiben und trotzdem das volle diplomatische Programm für die Gäste aus Österreich: Gardebataillon, Gardemusik, fast die gesamte Sowjetführung. Die Österreicher hatten laut Zeitzeugen aber ganz andere Sorgen: Erstens hatten Raab und Figl die Empfehlung des österreichischen Botschafters in den Wind geschlagen und auf die Mitnahme von Winterkleidung verzichtet. Zweitens schreibt Vizekanzler Schärf in sein Notizbuch: „Raab war es nicht gut, er konnte nichts essen und hatte Durchfall.“

Und drittens hatte die Delegation weder einen Beschluss des Ministerrats, noch einen Beschluss des Nationalrats im Gepäck, welche Haltung man in den anstehenden Verhandlungen mit den Russen einnehmen sollte — speziell in der Frage einer Neutralität. Ein mögliches Problem hatte man aber im Vorfeld sehr wohl bedacht, erzählt der damalige Kanzler-Sekretär und 2015 verstorbene ÖVP-Spitzenpolitiker Ludwig Steiner später — die Gefahr des Abgehörtwerdens im Gästehaus der Sowjets: „Für alle Fälle wurde ein Minerva-Radio mit Plattenspieler mitgenommen, damit wir bei lauter Musik im Zimmer ungestört reden konnten.“

Der pompöse Empfang hat bei Bruno Kreisky jedenfalls Eindruck gemacht und Hoffnungen geweckt: „Ich flüsterte zu Schärf: Wenn man uns mit so viel Sang und Klang begrüßt, wird man uns nicht sang- und klanglos abziehen lassen!“ Der Sang und Klang war an diesem 11. April für die österreichische Delegation aber noch längst nicht vorbei. Die russischen Granden luden für den Abend zu einem Galadinner in Österreichs Moskauer Botschaft. Da ließ dann zu vorgerückter Stunde die russische Seite ihre Absichten erstmals aufblitzen: Man wolle die „österreichische Frage im Geist der Freundschaft“ lösen „und diese Lösung soll die Grundlage für die Neuregelung unserer Beziehungen im Geist der Freundschaft sein.“

Gespräche auf der Kippe

Auch bei den Verhandlungen am folgenden Tag spricht Bruno Kreisky in seinen Erinnerungen von einer „sehr jovialen Atmosphäre“, wobei die Russen in der Sache einer Nachkriegsordnung für Österreich zunächst „zäh hinhaltend“ gewesen seien, dann aber „sehr großzügig“. Knackpunkt sowohl in den Verhandlungen mit den Russen als auch in der Abstimmung innerhalb der österreichischen Delegation blieb die Frage der Neutralität und der Abkoppelung von Deutschland. Für Streit sorgte in der Delegation zudem die Anregung der SPÖ, die Botschafter der Alliierten laufend über den Fortgang der Gespräche zu informieren. Nur missmutig willigte Bundeskanzler Raab dann aber ein.

Schärf droht mit Abreise

Die Frage der Neutralität war aber weiterhin ein Spaltpilz am Verhandlungstisch. „Für Raab war die Neutralität ein zusätzliches Offert an die Russen. Also, hat er sie dann auch angeboten. Vizekanzler Schärf drohte daraufhin mit der Abreise. Schärf ist dann natürlich nicht gefahren, Kreisky hat da sicher positiv auf ihn eingewirkt“, erinnert sich der damalige Botschaftssekretär Herbert Grubmayr noch Jahre später. Russland hatte die Neutralitätserklärung als Inhalt eines Staatsvertrages gefordert. Die österreichische Delegation betonte, nur ein souveräner Staat könne seine Neutralität erklären.

Und so einigte man sich im „Moskauer Memorandum“ schließlich auf einen Mittelweg: Österreich verpflichtet sich zu einer immerwährenden Neutralität nach Vorbild der Schweiz, wobei dies im Sinne der souveränen Position eines Staates Österreich nicht zum Inhalt des Staatsvertrages wurde. Ein absolut entscheidender Durchbruch in den Verhandlungen, betont der damalige Dolmetscher Rostislav Sergeev: „Die Sowjetunion war für ein Bündnisverbot. Es war notwendig, alles zu tun, dass Österreich keinem Block beitritt, Deutschland war ja Teil der Nato. In dem Augenblick, als dieses Gespräch stockte, bat Kanzler Raab um Unterbrechung. Es waren 15 Minuten, in denen das Schicksal Österreichs entschieden wurde. In einem Nebenraum beschlossen die vier Staatsmänner die Zukunft Österreichs“, so Rostislav Sergeev.

Viel Wodka und Cognac

So war also der Weg geebnet für ein Nachkriegs-Abkommen mit Russland, das als Vorstufe des Staatsvertrages (vorbehaltlich der Zustimmungen von USA, Großbritannien und Frankreich) mit der Bezeichnung „Moskauer Memorandum“ Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hat. Und so ein Abschluss musste natürlich gefeiert werden! Davor hatte sich Vizekanzler Adolf Schärf an diesem 14. April 1955 noch geweigert, zu später Stunde das Schlussdokument zu unterzeichnen: „Meine Herren, nach neun Uhr abends unterschreibe ich prinzipiell nichts!“ So wurde erst gefeiert: „Wir waren müde und von Wodka und Cognac schon weggetreten“, erzählt Botschaftssekretär Herbert Grubmayr, aber Außenminister Figl habe darauf bestanden, nächstens noch den Text des Schlussdokuments zu überprüfen.

Als dann ein paar Übereifrige noch begonnen haben, auch grammatikalische Fehler auszubessern, habe Figl um ein Uhr Einsehen gehabt: „Kinder seid’s net so kleinlich, lasst’s das! Österreich wird frei sein!“ Am 15. April wurde das Dokument unterzeichnet.

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