Die Kamera ist bis zur letzten Sekunde dabei

Daniel Rohers Dokumentarfilm „Nawalny“ erschüttert auf vielen Ebenen

Alexej Nawalny bei den Dreharbeiten zu „Nawalny“
Alexej Nawalny bei den Dreharbeiten zu „Nawalny“ © Polyfilm

Es soll ein Thriller werden. Nur im Falle seines Todes ein langweiliger Nachruf. Alexej Nawalny weiß, was er will, gibt den Ton an, die Richtung vor. Auch in der Dokumentation „Nawalny“ des Kanadiers Daniel Roher, die mitten in dieser verheerenden Zeit in die Kinos kommt.

„Der Mann, den sie gerade genannt haben“. Wladimir Putin nimmt Nawalnys Namen nie in den Mund, belegt den Oppositionellen mit zynischer Missachtung. Was passiert, passiert hinter den Mauern des Kreml.

Auf der anderen Seite Alexej Nawalny, der in der Doku seine PR-Maschinerie ungeniert präsentiert. Es irritiert, wenn er sich für ein TikTok-Video in Position bringt, den passenden Blick probt, zum Song „How Bizzare“ versucht, die Lippen synchron zu bewegen. Worum geht’s in dem Video? Um einen Mordanschlag, der auf ihn verübt wurde.

Geht diesem Mann die Inszenierung über alles? Sehen wir einer Mannschaft ausgefuchster PR-Strategen dabei zu, die einen Helden aus dem Boden, oder besser, aus den Sozialen Medien stampfen?

Wahrscheinlich. Aber das ändert nichts daran, dass Alexej Nawalny ein unglaublicher Mensch ist, der vor Mut und Zuversicht nur so überzugehen scheint, charismatisch bis ins Mark.

Roher zeigt Nawalnys Aufstieg in Russland, seine Reden, auch sein Auftreten vor Rechtsradikalen und seine Rechtfertigung. Der Regisseur hält die Kamera drauf, wenn Nawalny seine Superkraft scheinbar aus dem Ärmel schüttelt, Massen beeindruckt und mobilisiert.

Nawalny, ein tiefenentspannter Held

Dass Nawalny einen gefährlichen Weg als Putins Gegner gewählt hat, wird deutlich. Sein Team immer auf der Hut, tiefenentspannt nur der Herausforderer des Präsidenten, der Held des Films.

Der Flug vom 20. August 2020: zig Kameras, auch jene des Dokumentarfilmers, sind dabei, als der ehemalige Anwalt Nawalny Platz nimmt, das Flugzeug hebt ab, Schmerzensschreie, Notlandung, Bilder direkt aus dem Krankenwagen. Alexej Nawalny überlebt einen Giftangriff nur knapp, die Meldung geht um die Welt, der russische Oppositionspolitiker kommt nach Deutschland und beginnt dort, seinen eigenen Mordanschlag aufzuklären.

Maßgeblich dafür verantwortlich ist der aus Bulgarien stammende Enthüllungsjournalist Christo Grozev, der das Netzwerk hinter dem Anschlag aufspürt. In spektakulären Telefonaten bringt Nawalny selbst einen der Attentäter zum Reden, lässt die Bombe im Netz platzen und wird am 17. Jänner 2021 nach seiner Landung in Moskau festgenommen. Bis zur letzten Sekunde ist die Kamera dabei.

Nawalny ist angetreten, um Präsident von Russland zu werden, Putin zu entthronen. Nun sitzt der 45-Jährige im Straflager. Und er hat recht behalten, es ist ein Thriller geworden, eine kaum fassbare Geschichte über politische Machtausübung, einen hinterhältigen Mordanschlag mit Nowitschok.

Russland bestreitet übrigens bis heute, dieses Nervengift zu besitzen. „Nawalny“ ist ein bestürzendes und gleichzeitig absurdes Stück Zeitgeschichte, das uns vor Augen führt, dass unsere Welt durch die permanente Präsenz einer Handykamera gläsern ist und gleichzeitig im Hintergrund Strippen gezogen werden, die wir uns in unseren kühnsten Hollywood-Träumen nicht vorstellen konnten.

Von Mariella Moshammer

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