„Dieser Film ist dafür da, alle Tabus zu brechen“

„Woman“: Eine außergewöhnliche Dokumentation weiblicher Lebenswelten

Filmemacherin Anastasia Mikova
Filmemacherin Anastasia Mikova © Polyfilm

2012 bis 2014 entstand Anastasia Micovas und Yann Arthus-Bertrans Film „Human“, nun kommt der Nachfolger „Woman“in die Kinos. Ein riesiges Projekt, für das 2000 Frauen in 50 Ländern weltweit interviewt wurden — und nun zu Wort kommen und über alles sprechen.

Warum brauchen wir, braucht die Gesellschaft 2021 noch einen Film wie „Woman“?

Ich würde nicht sagen, dass wir ihn „noch“ brauchen, ich würde sagen, „endlich“ ist er da. Ich mache seit über 20 Jahren Filme, und vor 20 Jahren war es nahezu unmöglich, eine Frau in bestimmten Ländern zu finden, die bereit war, vor einer Kamera über die intimsten und persönlichsten Dinge zu reden. Als Yann Arthus-Bertrand und ich unseren Film „Human“ drehten, habe ich bemerkt, dass sich wirklich etwas bewegt.

In einigen Ländern, wo Frauen vorher ihre Stimme nicht erhoben haben, waren plötzlich Frauen, die sprechen wollten. Während der Interviews wurde klar, diese Frauen haben auf diesen Moment lange gewartet. Sie haben immer alles in sich verschlossen, bis es endlich herauskam. Ich wusste: Die Frauen sind bereit! Sie brauchen ein Fenster, um gehört zu werden. Ich sagte: „Lass uns dieses Fenster kreieren!“ Und das ist, was wir taten, zwei Jahre vor #MeeToo, vor der Weinstein-Affäre. Es war offensichtlich, dass dieser Moment gekommen war. Als #MeeToo dann in aller Munde war, haben viele Menschen gesagt: Ihr solltet den Film zu Ende und auf den Markt bringen. Wir wussten aber, das ist nicht ein Moment, sondern, dass eine echte, tief greifende Veränderung begonnen hatte. Darum haben wir uns die Zeit genommen.

Wie sind Sie dieses riesige Projekt angegangen?

Zeit und Vertrauen, das sind die zwei Schlüssel gewesen für unsere Arbeit, für die Interviews und sie hängen zusammen. Was man im Film sieht, sind kurze Ausschnitte von sehr langen Gesprächen. Natürlich kann man sich nicht jemanden gegenübersetzen und nach fünf Minuten Konversation sagen: „Oh, du wurdest vergewaltigt. Willst du das mit uns teilen?“ Oder: „Willst du mir etwas über deine Orgasmen erzählen? Wie war es das erste Mal?“ Du musst Vertrauen aufbauen. Zwei bis drei Stunden haben die Interviews gedauert, manchmal auch länger. Es war mehr eine Therapie … nach und nach haben die Frauen erzählt, haben sich geöffnet. Und als das geschah, haben die Frauen nicht mehr zu uns gesprochen, sondern zu sich selbst. Manche haben Dinge preisgegeben, von denen sie sich nie haben vorstellen können, sie jemals in einem Interview zu erzählen.

Nur Frauen haben die Interviews geführt, oder?

Ja, ich hatte ein Team von fünf Frauen und Journalistinnen aus der Region, die teilweise Monate daran gearbeitet haben, die befragten Frauen zu finden und das Vertrauen aufzubauen und auch zu erklären, was genau das für ein Projekt ist. Insgesamt haben hunderte Personen auf der ganzen Welt daran gearbeitet, 80 Prozent davon waren Frauen. Für die meisten wäre es unmöglich gewesen, über all die Dinge mit einem Mann zu reden. Aber: Wir hatten auch Männer im Team und wir waren in Ländern, wo uns die Männer im Team geholfen haben, akzeptiert zu werden, auch in den Familien der Frauen. Wir wollten alle Regeln befolgen und uns war es auch wichtig, dass die Frauen durch uns keine Probleme bekamen und stolz darauf waren, Teil unseres Projekts zu sein.

Bei welchen Fragen hatten die Frauen Probleme oder wollten sie nicht beantworten?

Yann und ich hatten von Anfang an verschiedene Zugänge zu dem Film. Er meinte, wir sollen über Diskriminierung sprechen, über Gewalt, Vergewaltigung als Waffe, usw.. Aber ich sagte, der Film heiße „Woman“ und nicht „Der Horror, den Frauen erleben“. Für mich war es klar, dass wir auch über sehr intime Dinge reden werden, über die Beziehung, die Frauen zu ihren Körpern haben, über Mutterschaft und wie das verändert, über die Entscheidung, Kinder zu haben, oder nicht, über die Periode. Und ich wollte von Anfang an über Sexualität sprechen. Es war sehr wichtig. Und, um ehrlich zu sein, ich hatte keine Ahnung, ob es funktionieren würde, weil in vielen Ländern ist das ein viel größeres Tabu, als über Gewalt zu sprechen. Über Orgasmen zu reden, ist viel komplizierter. Dieser Film ist dafür da, alle Tabus zu brechen, nicht nur die offensichtlichen. Anfangs wollten viele der Frauen nicht über Sexualität sprechen, haben bei den Fragen nur gelächelt, waren peinlich berührt. Aber als einmal die Türe offen war, oh mein Gott, war es unglaublich und wir mussten einige Dinge herausschneiden, weil es sonst ein Erotik-Film geworden wäre. Wenn ich sage, Frauen sind bereit, dann meine ich, sie sind bereit, über alles zu reden, wenn die Person gegenüber ihnen zuhört. Es war schön zu sehen, dass es keine Tabus mehr gab.

Wie schwierig war es, das viele Material zu schneiden?

Ich wurde oft gefragt, ob es schwierig war, all diese unglaublich emotionalen Geschichten der Frauen zu hören. Und ich sage immer: das Schwierigste war, diese 2000 unglaublichen Geschichten zu haben, auswählen zu müssen und einen Zwei-Stunden-Film daraus zu machen. Nach dem ersten Schnitt war der Film neun Stunden lang und für uns perfekt. Und dann auf zwei Stunden zu kürzen, das war wirklich das Schlimmste.

Haben Sie jemals daran gedacht, auf die andere Seite der Kamera zu wechseln?

Es ist interessant, und ich würde es jeder Frau empfehlen. Es wäre auch für mich interessant gewesen, wenn ich es ganz am Anfang gemacht hätte. Aber nachdem ich so viele Interviews geführt habe, da wird man natürlich beeinflusst. Wir haben den Frauen auch nie vorab die Fragen gegeben, weil es muss im Moment passieren. Es ist auch viel einfacher, wenn man die Frau nicht kennt, die man befragt und umgekehrt. Ich habe meine Mutter interviewt und wir hatten beide nach fünf Minuten Tränen in den Augen. Und der Kameramann, mein Ehemann, wusste nicht, was er tun sollte: weiterdrehen, uns umarmen … Ich begriff, dass ich meine Mutter nicht interviewen kann.

Wird es auch noch einen Film mit dem Titel „Man“ geben?

Während des Schnitts kam oft die Frage: Was würde ein Mann sagen? Wie würde er reagieren auf diese Situation? Männer kommen öffentlich oft zu Wort, zu oft würde ich sagen. Aber Privates? Hören wir Männer über ihren ersten Orgasmus sprechen? Hörern wir Männer darüber sprechen, wie sich Elternschaft auf ihre Männlichkeit auswirkt? Hören wir Männer, die erzählen, wann sie das letzte Mal geweint haben und warum? Niemals. Oder hören wir, was sie über ihre Körper denken, was daran sie mögen, was nicht? Wir haben schon begonnen, nach „Human“ und „Woman“ „Man“ vorzubereiten, aber dann kam die Pandemie. Und wir müssen jetzt warten, dass die Welt wieder ein bisschen zu wird wie davor, damit wir unserer Trilogie beenden können.

Mit Regisseurin ANASTASIA MICOVA sprach Mariella Moshammer

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