Dunkelziffer bei nicht erkannten Tötungen hoch

Prof. Fabio Monticelli warnt vor negativen Folgen des Mangels an Gerichtsmedizinern

Das „Werkzeug“ eines Gerichtsmediziners
Das „Werkzeug“ eines Gerichtsmediziners © APA/Fohringer

Der Leiter der Gerichtsmedizin an der Uni Salzburg, Prof. Fabio Monticelli, der auch für OÖ zuständig ist, über negative Entwicklungen und TV-Krimis.

VOLKSBLATT: Kein TV-Krimi kommt mehr ohne Gerichtsmediziner aus, der mehr oder weniger zur Lösung einer Bluttat beiträgt. Inwieweit stimmt das im Fernsehen vermittelte Bild mit der Realität überein?

MONTICELLI: Mal mehr, mal weniger, je nachdem wie realitätsnah Fiktion sein soll bzw. wie gut die gerichtsmedizinischen Berater des Drehbuchautors sind. Zudem muss in einem Krimi der Fall innerhalb von 90 Minuten gelöst werden, so dass bereits aus dramaturgischen Gründen ein Abrücken von der Realität erforderlich ist.

Schauen Sie selbst Krimis bzw. können Sie sich mit einem der Gerichtsmediziner identifizieren?

Ich schaue sehr wenige dieser Krimis. Mit derartigen Themen bin ich in der Arbeitszeit beschäftigt. Der Bedarf hält sich in der Freizeit sehr in Grenzen. Manchmal bleibe ich aber bei Sendungen hängen, in denen echte Fälle aufgerollt werden – aus fachlichem Interesse.

Was macht einen guten Gerichtsmediziner aus?

Ein guter Gerichtsmediziner hat einen kriminalistischen Spürsinn und muss auch Informationen hinterfragen, die scheinbar klar sind.

In Krimis üben die Ermittler immer einen zeitlichen Druck aus. Ist das in der Realität auch so?

Zeitlicher Druck, wie er in den Krimis vorkommt, kann mitunter vorliegen. Obduktionsergebnisse sind für die weiteren Ermittlungsschritte essenziell. Angaben zum Tatablauf oder zur Tatwaffe sind für die Klärung des Falles entscheidend. Die Fahndung nach dem Täter/der Täterin kann damit beschleunigt werden. Insbesondere bei der Begutachtung von (lebenden) Gewaltopfern ist eine rasche forensisch-medizinische Beurteilung essenziell und schon allein in Bezug auf die Spurensicherung günstig. Je mehr Zeit verstreicht, desto schwieriger (bis unmöglicher) ist die Spurensicherung und desto ungenauer ist die Befunderhebung samt Interpretation.

Das „Werkzeug“ eines Gerichtsmediziners
„Bei Obduktionen hilft man nicht dem Opfer direkt, sondern den Angehörigen“ - Prof. Fabio Monticelli, Gerichtsmediziner ©Uni Salzburg

Ärzte versuchen, Menschen zu heilen, Sie und Ihre Kollegen stellen fest, woran jemand gestorben ist. Ist das ebenso befriedigend, wie jemanden gesund zu machen?

Kurative Medizin und Forensische Medizin sind schwer vergleichbar. Bei Obduktionen hilft man nicht dem Opfer direkt, sondern den Angehörigen. Darüber hinaus trägt man zur Wahrheitsfindung und zur Kriminalitätsbekämpfung bei. Das ist ein gesellschaftspolitischer Auftrag, für den wir arbeiten. Bei der Untersuchung lebender Personen, die etwa Opfer von Gewaltdelikten geworden sind, wird auch den Geschädigten selbst geholfen. Nicht in kurativer Hinsicht, sondern auf anderer Ebene.

Wenn man ständig mit dem Tod zu tun hat, sieht man dann das Leben mit anderen Augen bzw. geht man weniger Risiken ein?

Es wird einem jedenfalls bewusst, dass das Leben plötzlich zu Ende sein kann. Die logische Konsequenz wäre eigentlich, bewusster zu leben. Nichtsdestotrotz ist es auch mit dieser spezifischen Erkenntnis nicht einfach, das in die Tat umzusetzen. Zumindest bei mir folgt das nicht einem Automatismus.

Die Zahl der Obduktionen ist in den vergangenen Jahren stark rückläufig, mit dem Nachwuchs ist es auch nicht zum Besten bestellt, weshalb Ministerin Zadic 2020 eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat.

Die Obduktionszahlen befinden sich seit Jahrzehnten im Sinkflug. Allerdings betrifft das in erster Linie Obduktionen, die in Krankenhäusern zum Zweck der Qualitätssicherung der klinischen Arbeit vorgenommen werden. Die forensischen (gerichtsmedizinischen) Obduktionsraten sind weitgehend stabil, aber auf sehr niedrigem Niveau. Die Auswertung der Daten der Statistik Austria ergibt gerichtliche Sektionsraten von unter 1 bis über 3 Prozent je nach Bundesland. Zwangsläufig haben wir es mit beträchtlichen Dunkelziffern hinsichtlich nicht erkannter Tötungsdelikte zu tun. Was die Arbeitsgruppe genau zum Ziel hat, ist mir nicht bekannt.

Das bedeutet, wir nehmen in Kauf, dass etliche Bluttaten nicht aufgeklärt werden?

Das ist einhellige Meinung unter gerichtsmedizinischen Experten. Es gibt diverse Schätzungen auf wissenschaftlicher Basis hierzu. Die in Österreich extrem niedrige Sektionsrate (in Bezug auf gerichtliche Obduktionen) und das weitgehend insuffiziente Leichenschausystem (Totenbeschauwesen) kann nur eine hohe Dunkelziffer in Bezug auf nicht erkannte nicht natürliche Todesfälle und damit auch auf Tötungsdelikte zur Folge haben.

Warum ist dieser Beruf für Mediziner wenig attraktiv?

Obwohl das Fach an sich sehr interessant und abwechslungsreich ist, gibt es einige Nachteile, die junge Ärzte davon abbringen dürften, in das Fach einzusteigen. So ist eine Niederlassung kaum möglich. Gerichtsmediziner sollten neben der Dienstleistung für Polizei und Gerichte auch Forschung und Lehre betreiben. Diese Doppel- belastung möchten nur wenige eingehen bzw. ist das Forschen und Lehren nicht jedem in die Wiege gelegt. Weitere Nachteile sind eine teils ungenügende Bezahlung im Vergleich zu anderen Fachdisziplinen bzw. in anderen deutschsprachigen Ländern. Hinzu kommen die psychische Belastung und der mangelnde kurative Ansatz. In Österreich beklagen wir einen eklatanten Gerichtsmediziner-Mangel, der in naher Zukunft einen Zusammenbruch der forensisch-medizinischen Begutachtung zur Folge haben wird.

In der Medizin gibt es immer Fortschritte, man denke nur an die Impfstoffentwicklung in der Corona-Pandemie. Wie sieht es in Ihrem Fach aus? Sie haben ja selbst eine neue Methode zur Bestimmung des Todeszeitpunktes entwickelt.

Nachdem unser Fach universitär verankert ist, wird auch in der Gerichtsmedizin geforscht. Man denke nur an die Entwicklung in der DNA-Analytik und in der chemisch-toxikologischen Analytik. Diese hoch technisierten apparativen Untersuchungsmöglichkeiten haben sich extrem weiterentwickelt. So ist es heute möglich, viele Straftaten zu klären. Auch im forensisch-medizinischen Bereich tut sich viel. Am Institut sind wir dabei, eine Methode zur Todeszeiteingrenzung zu implementieren.

Was schätzen Sie als gebürtiger Italiener an Österreich?

Ich bin seit fast 20 Jahren in Österreich und ich habe mich gleich zu Beginn sehr wohl gefühlt. Die Menschen, das Land, die Natur machen es hier sehr lebenswert. Und Italien ist auch in der Nähe.

Wie sieht ihr Ausgleich zum Beruf aus?

Diesen finde ich hauptsächlich in der Familie und im Sport. Natürlich versuche ich auch, das umfangreiche Kulturangebot in Salzburg wahrzunehmen.

Mit Gerichtsmediziner FABIO MONTICELLI sprach Heinz Wernitznig

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