Ein greller Reigen der Gier

Premiere: Frank Wedekinds „Lulu“ in den Linzer Kammerspielen

Angela Waidmann als Gräfin leidet still, Christian Taubenheim (Dr. Schön) leidet bald, Cecilia Pérez als Lulu ist jetzt am Drücker.
Angela Waidmann als Gräfin leidet still, Christian Taubenheim (Dr. Schön) leidet bald, Cecilia Pérez als Lulu ist jetzt am Drücker. © Herwig Prammer

Wenn wieder einmal einer von Lulus Männern abkratzt, beugt sie sich über ihn und will helfen. „Bussi … Bussi.“ Doch der Tote ist tot und Lulu ganz erstaunt, dass sie in ein „wildfremdes“ Gesicht blickt. Sogar dem Tod, diesem ultimativen Ankitzeln anstandsgemäßer Empfindsamkeit, verweigert Lulu die Anerkennung.

Hat Lulu eine kranke Seele, fragt empört der Kunstmaler Schwarz (Alexander Hetterle), hat Lulu denn jemals geliebt? – „Seele“, „Liebe“, da wird gutbürgerliches Herz schwach und weich. Und erst recht bei der Kunst! Zum Zerkugeln der eingestreute Vortrag eines Kunstexperten über die „Mondscheinsonate“. Erstklassiges Kunstschwurblertum, „Beethoven komponierte Raum“. Yeah!

Frank Wedekinds von ihm jahrelang bearbeitetes Drama „Lulu“ – je nach Stückfassung lassen sich die Premieren um 1900 datieren – ist nur vordergründig die Geschichte vom gesellschaftlichen Aufstieg und Fall der Femme fatale Lulu. Boshaft, ja grausam sezierte Wedekind eine bürgerliche Gesellschaft, die wenig später mit wohligem Schauer dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg applaudierte. Eine Männergesellschaft, die Lulu mit ihrer absoluten „Natürlichkeit“ zerbröseln lässt. Um schließlich selbst daran zugrunde zu gehen.

Premiere einer rabenschwarzen, bitterbösen, herausragenden „Lulu“ war am Samstag in den Linzer Kammerspielen. Regisseurin Fanny Brunner rückt beherzt in den Mittelpunkt, was eine Gesellschaft vor gut 100 Jahren ebenso wie heute dominiert: die Gier. Dies zu verdeutlichen, setzt Brunner auch gerne grelle und derbe Effekte. Entzückende Phallussymbole wie der riesige Bleistift des Kunstmalers oder die mindestens 30 Zentimeter lange Zigarre von Lulus „Förderer“ Dr. Schön, eines enorm triebhaften Zeitungsherausgebers (Christian Taubenheim).

Aber eine fühlt wirklich

Es geht wild zu auf der Bühne, man kopuliert, zur Not auch mit dem Bühnenboden. Die Lulu in stetem Kostümwechsel als immer wieder erneuerte Projektionsfläche für die Sehnsüchte der Männer, vom rosa Bikini bis zur bombigen (Kunststoff-)Körperform in der mondänen Pariser Zeit. Cecilia Pérez spielt als Lulu unbeschreiblich gut. Erst völlig undurchschaubares Wesen, das seinen Launen und der Gottheit Geld folgt. An der Endstation London ist Lulu eine zerstörte Frau und billige Dirne, die lethargisch in den Mord durch Jack the Ripper taumelt.

Video
Ich möchte eingebundene Social Media Inhalte sehen. Hierbei werden personenbezogene Daten (IP-Adresse o.ä.) übertragen. Diese Einstellung kann jederzeit mit Wirkung für die Zukunft in der Datenschutzerklärung oder unter dem Menüpunkt Cookies geändert werden.

Das Ensemble gruppiert sich willig um diesen leuchtenden, untergehenden Stern. Angela Waidmann gefällt ungemein als Gräfin Geschwitz. Womöglich die einzige, die fühlt, die liebt. Eine Außenseiterin, die ihre von Lulu unerwiderte Liebe still erträgt. Anders die Herren, die sich dem Selbstmitleid oder der Raserei hingeben. Im Clownskostüm als kraftloser Literat und Sohn des Verlegers Jakob Kajetan Hofbauer, eine sehr amüsante und schon wieder Mitleid erregende Figur. In Hochform Christian Higer in der Kluft eines Großwildjägers und darunter im Sado-Maso-Outfit, um Lulu den Hund zu machen. Ein Raumfahrer zählt den Countdown ab zum Casinokapitalismus, Helmut Häusler eindrucksvoll als Lulus dubioser „Vater“, der sie selbst gern begatten würde. Alle tun´s, wen stört´s?

Eine schöne Talentprobe legt Leonie Jacobs vom Schauspielstudio der Bruckneruni ab. Eine züchtige Klosterschülerin, die wohl als nächste in die Fänge geldpotenter Männer geraten dürfte. Gemeinsam mit Lulu am Ende im trotzigen, selbstbehauptenden Singsang: „Mein Fleisch heißt Lulu …“

Diese „Lulu“ unterhält höllisch und ist absolut sehenswert. Langer Applaus.

Von Christian Pichler

Das könnte Sie auch interessieren