„Es war eben alles möglich“

Stefan Ruzowitzky über digitale Versuchungen und historische Genauigkeit

Stefan Ruzowitzky (l) und Murathan Muslu bei der Premiere von „Hinterland“ in Wien. Für Netflix drehen sie gemeinsam die „Barbaren“.
Stefan Ruzowitzky (l) und Murathan Muslu bei der Premiere von „Hinterland“ in Wien. Für Netflix drehen sie gemeinsam die „Barbaren“. © Andreas Tischler/picturedesk.com

VOLKSBLATT: Hat Sie der Publikumspreis in Locarno besonders gefreut?

STEFAN RUZOWITZKY: In dem Fall schon, weil „Hinterland“ kein typischer Publikumsfilm ist. Er ist sehr experimentell und speziell. Da hoffen wir jetzt natürlich auch, dass die internationalen Einkäufer mitbekommen haben, dass trotz der unkonventionellen Machart die Geschichte sehr gut beim Publikum funktioniert.

Muss man bei so vielen digitalen Möglichkeiten, die Ihnen „Hinterland“ bot, aufpassen, nicht zu viel zu machen?

Normalerweise, wenn man on location dreht, hat man durch die Gegebenheiten Einschränkungen und sucht nach kreativen Lösungen, um damit zurechtzukommen. Hier war das Problem, dass es zu wenig Einschränkungen gab. Es war eben alles möglich. Ob ich im Hintergrund einen Kirchturm habe oder sieben oder 27, ist eigentlich egal. Die Einschränkung, die es wirklich gab, war eine budgetäre: Alle Kamerabewegungen sind bei diesen Verfahren viel teurer und mussten daher sparsam eingesetzt werden.

Ist „Hinterland“ ein teurer Film geworden?

Ich glaube, es waren dann schlussendlich sechs Millionen Euro. Was für Österreich viel ist, für Deutschland ein gutes mittleres Budget. Sicher, diese Technologie ist teuer, aber historische Filme können extrem teuer werden, weil für so einen Film, in dem die Stadt eine Hauptrolle spielt, ganze Straßenzüge hätten umgestaltet werden müssen. Wenn man „Hinterland“ herkömmlich gedreht hätte, wäre das nur mit einem Vielfachen des Budgets erreichbar gewesen.

Gibt es „Hinterland 2“?

Autor und Produzent denken schon über eine Fortsetzung nach. Die Hauptfiguren sind ein spannendes Gespann, mit dem man mehr machen könnte. Und dieses Wien der Zwischenkriegszeit ist auch ein ganz faszinierender Hintergrund.

Gerade drehen Sie mit „Barbaren“ für Netflix wieder einen historischen Stoff …

Historische Stoffe sind wie eine Fantasy-Welt, die man sich basierend auf der historischen Wahrheit zusammenbauen kann, um Aussagen zu treffen über unsere Zeit anhand des Kontrastes. Ich fand das immer sehr spannend. Und weil ich Geschichte studiert habe, weiß ich auch, dass man Geschichte nicht hundertprozentig korrekt wiederherstellen kann. Dass es immer darum geht, die Wahrhaftigkeit in einem übergeordneten Sinn zu treffen, als in jedem Detail objektiv richtig zu sein. Ich kann mich bei „Die Fälscher“ erinnern, dass wir mal zwei Zeitzeugen am Set gehabt haben, die sofort zu streiten angefangen haben, ob die Betten in den Baracken zwei- oder dreistöckig waren. Man muss sich da eine gewisse Freiheit erlauben.

Wie laufen die „Barbaren“- Dreharbeiten in Polen?

Es ist lustig und wild, mit Schwertern durch die Wälder zu laufen. Es ist eine spezielle Erfahrung mit Netflix. Das ist halt ein riesiger Konzern mit allen damit zusammenhängenden Vor- und Nachteilen. Das ist schon was anderes, als so einen kleinen, persönlichen Arthouse-Film zu machen. Aber ich bin ja immer gewandert zwischen diesen beiden Welten. Beides hat auf seine Art einen Reiz, eben auch mal mit so großem Besteck zu arbeiten. Aber es ist natürlich viel weniger meines als „Hinterland“, das ist viel persönlicher.

Wohin wird Murathan Muslus Karriere noch führen, wenn das so weitergeht?

Ich denke, dass der Murathan so einer der ganz großen österreichischen Filmstars ist. Tolle Schauspieler haben wir viele, aber so richtige Filmstars, die Helden spielen können, die so eine irre Leinwandpräsenz, so ein unwahrscheinliches Charisma haben, das gibt es ganz selten. In Deutschland wird er zunehmend eine große Nummer. Wie sehr der internationale Markt auf ihn zukommt, oder wie sehr er da Interesse hat, das muss man sehen. Wir haben eine Szene mit Matthias Schweighöfer gedreht und danach ist der gekommen und hat zu mir gesagt: „Als wir vorhin auf das ,Action!‘ gewartet haben, habe ich Murathan atmen gehört und gewusst, der ist ein ganz Großer!“ Wie man das am Atmen hört … aber der wird das schon wissen, der Schweighöfer.

Sie haben bei der Nominierten-Vorstellung für den Österreichischen Filmpreis gefordert, dass es mehr Rollen für Schauspieler mit Migrationshintergrund geben sollte …

Ich bin jetzt irgendwie ganz fein raus, wenn ich mit Murathan jemanden mit türkischem Migrationshintergrund als österreichischen Offizier und Germanenfürst besetze. Da habe ich jetzt genug Diversity-Punkte fürs Leben! (lacht) Aber gerade bezüglich der türkischen und arabischen Community kann man versuchen, einfach eine gewisse Selbstverständlichkeit zu finden, dass etwa auch ein Arzt oder ein Polizist offensichtlich Migrationshintergrund haben. Das entspricht einfach unserer Realität.


„Vielleicht haben wir alle ein kleines Trauma“

Murathan Muslu hängt in „Hinterland“ kopfüber und reitet für die „Barbaren“

VOLKSBLATT: Wie haben Sie die Premiere von „Hinterland“ in Locarno erlebt?

MURATHAN MUSLU: Ich habe unter diesem Sternenhimmel das erste Mal „Hinterland“ gesehen und war einfach hin und weg. Das werde ich nie vergessen. Ich habe die letzten paar Minuten des Films verpasst, weil ich auf die Sterne geguckt habe und den Moment einfach nur genossen habe. Und es hat mich sehr gefreut, dass der Film so gut angekommen ist.

Durch das Drehen vor Bluescreen haben Sie ja vorher nicht viel gesehen. Sind sie zufrieden mit dem Ergebnis?

Ich bin nicht nur zufrieden, ich bin der Meinung, dass Stefan 100 Jahre nachgeholt hat und auf 2021 projiziert hat. Bei „Das Kabinett des Dr. Caligari“ waren es noch wirkliche Gegenstände zum Anfassen, und wir haben das mit „Hinterland“ mit visual effects ins Jahr 2021 geholt. Es war meiner Meinung nach damals schon ein Meisterwerk, und was der Stefan jetzt hier gemacht hat, das ist definitiv die moderne Art von Kunst für 2021. Ich hoffe, andere Produzenten und Regisseure sehen den Film und lassen sich inspirieren, kommen auf weitere, andere Ideen. So lebt das Herz des Films dann weiter.

War’s schwierig, ohne „echten“ Hintergrund zu drehen?

Im Gegenteil, es war genau andersrum, denn der Fokus lag wirklich nur auf dem Gegenüber. Der Augenkontakt mit den Kollegen war viel stärker, als ich es gewohnt bin bei einem normalen Set, wo die Umgebung auch eine große Rolle spielt. Aber hier hast du ja nichts gehabt außer dein Gegenüber. Deshalb schoss der Barometer der Konzentration in die Höhe.

Es gibt eine Kopfüber-Szene im Film. Die sah sehr echt aus.

Das war auch echt. Am Anfang hatte ich ein paar technische Probleme, es hat sehr weh getan, aber dann haben wir das gut hinbekommen. Ich hänge wirklich kopfüber.

Sehen Sie bei der Geschichte, die in der Zwischenkriegszeit spielt, einen Bezug zur heutige Zeit, die von der Pandemie bestimmt ist?

Ich würde das gar nicht so mit der Pandemie vergleichen, sondern mit dem Weltproblem, das der Mensch hat. Psychologische Probleme, weil die Gesellschaft einfach rasant heranwächst, die Wirtschaft viel schneller wird, die Technik sich erhöht und wir kaum Luft haben, uns selber mal für fünf Minuten hinzusetzen und uns zu fragen, wer wir wirklich sind. Vielleicht ist das so ein Gegenspiegel, den Peter Perg hier aufreißt, weil er traumatisiert zurückkommt und vielleicht haben wir alle ein kleines Trauma in uns drinnen, mal mehr, mal weniger. Wir Menschen haben so viel zu tun, dass wir oftmals kaum Luft bekommen, um das wahre Leben zu spüren.

Wird die Geschichte von „Hinterland“ weitergehen?

Wir wollen vielleicht einen zweiten Teil herausbringen. Ich glaube, Peter Perg hat zwar seine inneren Dämonen besiegt, aber noch nicht ganz. Da ist noch etwas in ihm …

Wie haben Sie sich auf den Dreh von „Barbarern“ von Stefan Ruzowitzky vorbereitet?

Auf jeden Fall habe ich mir lange Haare und einen langen Bart wachsen lassen. Und ich musste reiten lernen, ich kann es noch immer nicht. Aber ich habe es geschafft, irgendwo in Polen in der Pampa, locker 200 Meter durchgehenden Vollgas-Galopp zu reiten, ohne runterzufallen.

Wie laufen die Dreharbeiten?

Es ist richtig historisch, unheimlich historisch.

Wild und blutig?

Dazu darf ich noch nichts sagen, nur soviel: Es wir zum Ende ziemlich blutig werden. Dazwischen gibt es viele Streitigkeiten zwischen den Figuren und ich freue mich, dass ich mit Laurence Rupp erneut drehen kann. Schöne Grüße auch an dieser Stelle an den Laurence Rupp: Es ist mir eine Ehre mit ihm zu spielen bei „Barbaren“!

Stefan Ruzowitzky forderte beim Filmpreis mehr Rollen für Schauspieler mit nicht-österreichischem Background. Sind Sie in der Sache gerne Vorbild und Vorreiter?

Ich weiß nicht, ob ich da Vorbild oder Vorreiter bin, aber ich kenne meine Gedanken dazu und freue mich, dass Stefan da in die Richtung denkt. Mir ist aufgefallen, dass im internationalen Bereich die Schauspielerinnen und people of color mehr forciert werden als im deutschsprachigen Raum. Da hinken wir enorm nach, da haben wir noch viel aufzuarbeiten. Wenn man ein Script schon schwarz-weiß schreibt, hat man im Nachhinein keine Chance mehr, es bunter zu gestalten. Man sollte Drehbücher so konzipieren, dass jeder Schauspieler die Chance hat, die Rolle zu bekommen, wo er beim Casting der Beste war.

Mit STEFAN RUZOWITZKY und MURATHAN MUSLU sprach Mariella Moshammer

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