Fragen gegenwärtiger Existenz

Heute werden beim Filmfestival in Locarno die Preisträger gekürt

Aus „Serviam – Ich will dienen“ von Ruth Mader
Aus „Serviam – Ich will dienen“ von Ruth Mader © Panda

Die 75. Ausgabe des Filmfestivals von Locarno geht heute, Samstag, mit der Preisverleihung zu Ende. Die Auswahl unter der künstlerischen Leitung von Giona A. Nazzaro widmete sich im Sinne des Jubiläumsjahres einerseits der Geschichte des Festivals. Andererseits folgte sie angesichts einer Zeitenwende den Impulsen von Filmen, die sich übergreifend einer neuen Qualität der Beobachtung widmen — formal im Sinne eingehender Bildreflexion, inhaltlich im Nachdenken über Fragen gegenwärtiger Existenz.

Verschüttete Welt

Auch auf der Piazza Grande mit nun wieder bis zu 8000 Zusehern wurden höchst anspruchsvolle Filme geboten: Zurückhaltend in der Handlung, jedoch minutiös die verschüttete Welt der Vergangenheit erschließend, zeigt sich das authentische Migrationsdrama „Semret“ der Schweizerin Caterina Mona über eine als Geburtshelferin arbeitende Frau aus Eritrea (Lula Mebrahtu) und deren Tochter. In „Une femme de notre temps“ von Jean Paul Civeyrac (Frankreich) steht eine von ihrem Mann betrogene Frau (Sophie Marceau) dem eigenen Leben aus der Außenseiterperspektive reflektierend gegenüber. Im italienischen Road-Movie „Gigi la legge“ von Alessandro Comodin folgt man der Perspektive eines auch mit Pflanzen sprechenden Verkehrspolizisten (Pier Luigi Mecchia) über die Straßen Friauls, dessen Innenwelt sich schließlich durch das Lied „Sono un pirata, sono un signore“ („Ich bin ein Pirat, ich bin ein Gentleman“) von Julio Iglesias ausdrückt.

Die Reflexion über die Vielfalt der Existenz kommt insbesondere in der „Befragung“ der Natur zum Ausdruck: Im deutschen Beitrag der israelischen Regisseurin „Piaffe“ lässt die Synchronisation eines Filmausschnittes die Tonassistentin (Simone Bucio) nach eingehender Beobachtung der Kommunikationsweisen von Pferden und mit deren Geräuschimitation selbst deren Charakter annehmen. Komödienhaft erscheint der aus ihrem Körper wachsende Pferdeschwanz: Nicht mehr die Technik beeinflusst die Natur, sondern umgekehrt. Die Auslotung eigener „doppelter“ Existenz auf dem Hintergrund sozialer Ansprüche erweist sich in „Regra 34“ von Julia Murat im brasilianisch-französischen Beitrag als aus dem Lot bringende Gratwanderung: Eine Rechtsanwältin (Sol Miranda), welche sexueller Gewalt ausgesetzte Frauen verteidigt, gibt sich selbst als Cam-Girl hin, um soziale Schranken zu überwinden.

Zuspruch für „Serviam“

Der mit großem Zuspruch bedachte österreichische Beitrag „Serviam – Ich will dienen“ von Ruth Mader thematisiert die Einsamkeit des Wohlstandsmilieus der 1980er Jahre in strenger formaler Bildkomposition über die Linearität des Interieurs eines Mädcheninternats in steriler Farbgebung. Letztlich folgt der überzogene Missionsauftrag der erziehenden Klosterschwester dem Versuch, die eigene Einsamkeit zu überwinden. Der zweite Film aus Österreich, „Matter out of Place“ von Nikolaus Geyrhalter, gibt eine weltweite Zusammenschau der Versäumnisse und Mühen im Umgang mit Müll in der Schweiz, am Balkan, in Nepal, auf den Malediven, in Österreich und in den USA, v.a. in Tourismusgebieten. „Nicht Recycling, sondern die Vermeidung von Müll ist die einzige Lösung“, so der Regisseur bei der Pressekonferenz am Mittwoch.

Der als Bilderzählung gestaltete Beitrag „Sermon to the Fish“ von Hilal Baydarov (Aserbaidschan) reflektierte angesichts aktueller Kriegssituation über die nur mehr in Ausschnitten mögliche Wahrnehmung in der aufrüttelnden Botschaft „Surviving is not living“. Ebenso tabulos im Zugang zur Auslotung von Wirklichkeit präsentierte sich die Sektion „Kinomacher der Gegenwart“, so der kroatische Film „Safe Place“, von Juraj Lerotic, der die erschöpfenden Bemühungen einer Familie um ein suizidgefährdetes Mitglied thematisiert.

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Von Michael Aichmayr

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