Freude, Elend, Unschuld der Kindheit

Dichte und großartige Ausstellung „Wilde Kindheit“ im Lentos Kunstmuseum bis 5. September

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Im Museum suchen sich Menschen selbst und wissen das oft gar nicht. Im Kunstmuseum hängen Spiegel an der Wand, die „Kunstwerke“. Der verwirrendste, schönste Spiegel: Kindheit. „Ich trage all das in mir“, sagt Yoko Ono über ihre jungen Jahre, „jeden Tag spüre ich das“.

Zwölf Videointerviews mit Künstlern bilden das Zentrum von „Wilde Kindheit“, einer dichten, verstörenden, abwechselnd fröhlich oder auch bedrückt stimmenden Ausstellung im Linzer Kunstmuseum Lentos. Daniel Kehlmann, Patti Smith oder Herta Müller erzählen von ihrer Kindheit und wie jene sie geformt hat.

Vom Zentrum aus eine sternförmige Aufteilung in Bereiche der Kindheit, von „unbekümmert“ bis „ohnmächtig“ und „pubertär“. 350 Werke von 170 Künstlerinnen und Künstlern, aus eigenen Beständen und aus Europa und Übersee. Gebündelt auch in einer geistvollen, wunderbar gestalteten Publikation (32 Euro).

Ein ganzes Leben, sagt die Linzer Kulturstadträtin Doris Lang-Mayerhofer, würden wir uns bemühen, „den Blick auf die eigene Kindheit zu richten“. Verbale Rosen für die Kuratorinnen Elisabeth Nowak-Thaller und Sabine Fellner, eine „wahnsinnig gelungene Ausstellung“ und „großartige Architektur“ (Gestaltung von Silvia Merlo). Die zum Teil tiefe Hängung ermöglicht auch Kindern einen direkten Blick auf die Werke.

„Mutprobe“ beim Eingang

Das Thema „Kindheit“ empfängt den Besucher schon im Foyer des Lentos. Ein meterhohes Gestell mit Leiter, ein Knabe balanciert oben, hat den Regenschirm aufgespannt und will offensichtlich springen.

„Mutprobe“ nennt der Deutsche Martin Honert sein Werk von 1999, das Thema ungezügelter Kindheit wird im großen Ausstellungssaal vielfach variiert. Im Raum „neugierig“ etwa die Fotoserie „Elba y Maya“ des Spaniers Jorge Fuembuena, der seine Töchter beim Spiel im Freien ablichtete. Heitere Stimmung, darüber Vollmundiges von Pippi Langstrumpf, dem modernen Archetyp des wilden Kindes: „Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe.“

Ist Kindheit glücklich? Möglich – und ein Klischee. Kuratorin Sabine Fellner wollte gerade in Zeiten der Pandemie Kinder, „das schwächste Glied der Gesellschaft“, in den Mittelpunkt rücken. Was ist Kindheit? Interessanterweise erst seit rund 200 Jahren als eigener Abschnitt der Persönlichkeitsentwicklung akzeptiert, „mussten Kinder die absurdesten Erziehungskonzepte über sich ergehen lassen“, sagt Fellner.

Von sogenannter schwarzer Pädagogik vergangener (?) Zeiten („die böse Kindsnatur austreiben“) bis zu „Rasenmähereltern“ der Gegenwart, die Kindern jedes Hindernis aus dem Weg räumen wollen. Neben Überbehütetheit heute betont Fellner die Destruktivität digitaler Medien: Via Monitor „Zweiterfahrung“ statt unmittelbare Erfahrung im Spiel, im Freien.

Im Raum „diszipliniert“ Ulrike Linbachers Bilder zu Fitness und Ertüchtigung Jugendlicher: Ist das noch Freude am Körperlichen und an der Bewegung oder schon Zurichtung (früher: „Abhärtung“)? Viele Künstlerinnen und Künstler arbeiten mit Doppeldeutigkeiten, Ambivalenzen. Wörter wie „Unschuld“ oder „Freiheit“ – immer auch Etiketten, Projektionen von Ausgewachsenen.

Es tut auch weh

Im Lentos zeitgenössische Künstler und „Klassiker“, weniger bekannte und „große“ Namen, aus Österreich Oskar Kokoschka, Maria Lassnig oder Gottfried Helnwein. Letzterer noch immer zu stark unter dem Pop-Aspekt betrachtet, dabei ein Tiefenschürfer der menschlichen Seele, der Verwundungen eines Kindes.

„Crocodile Rock“ oder „The doubting Thomas“ (Der zweifelnde Thomas): Das Anschauen tut weh, so wie das die innere Wahrheit oft tut. Es gibt ganz viel zu entdecken in diesem künstlerischen Kosmos „Wilde Kindheit“. Unweigerlich verweist er einen – Mutprobe! – auf den je eigenen Kosmos, der Kindheit heißt.

Von Christian Pichler

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