„Ich musste alt werden, um das schreiben zu können“

Renate Welsh eröffnet am Freitag die Steyrer Literaturtage mit ihrem neuen Werk „Die alte Johanna“

Renate Welsh
Renate Welsh © Christopher Mavric

1979 erschien ihr Buch „Johanna“ über das Leben eines unehelich geborenen Mädchens im Österreich der 1930er-Jahre.

Am Freitag (21.5.) eröffnet die 83-jährige Autorin Renate Welsh um 19 Uhr die Steyrer Literaturtage — mit ihrem neuen Werk „Die alte Johanna“, in dem sie die Geschichte über das Leben ihrer „realen“ Nachbarin zu Ende führt.

VOLKSBLATT: Wie kam es dazu, dass Sie in den späten 1970er-Jahren „Johanna“ schrieben, dann eine so lange Zeit vergehen ließen und jetzt „Die alte Johanna“ erschien?

RENATE WELSH: Ich habe die „Johanna“ geschrieben, weil ich so beeindruckt war von dieser Frau und eigentlich ihr zeigen wollte, dass nicht sie etwas zu beweisen hatte, sondern, dass die anderen etwas zu beweisen haben. Ich wollte ihr ihre eigene Geschichte zurückgeben, als etwas, auf das sie stolz sein konnte. Das hat auch funktioniert. Sie war sehr stolz auf das Buch, nachdem sie es zuerst gar nicht lesen wollte. Sie hat den schönen Satz gesagt: „Na, ich habe es ja leben müssen, was soll ich es lesen auch noch?“ Sie hat es dann erst nach dem Tod ihres Mannes gelesen. Ihr einziger Kommentar was danach: „Wieso hast du alles geschrieben, was ich dir nicht erzählt habe?“ Das war sozusagen mein Ritterschlag. Viele, viele Jahre später hat sie ein paar Mal gesagt: „Eigentlich müssten wir ja noch einen zweiten Band schreiben.“ Das ist mir immer wieder einmal durch den Kopf gegangen, aber es hat lange gedauert, bis ich mich dran getraut habe.

Was war das für eine Furcht?

Respekt wahrscheinlich. Trotz allem ist es immer noch eine Art von stellvertretendem Schreiben. Die Frage ist, wie weit trifft man ihre Wahrheit, treffe ich meine Wahrheit. Das sind ja immer noch zwei verschiedene Wahrheiten. Und das, was die Leserin oder der Leser daraus liest, ist noch eine dritte, vierte Wahrheit. Das ist sehr schwer zu benennen. Ich denke, ich musste selbst alt werden, um das schreiben zu können.

Ist „Die alte Johanna“ für Sie eine klassische Fortsetzung?

Eigentlich nicht. Es ist zeitlich ein bisschen ein Durcheinander. Es hat etwas damit zu tun, wie Erinnern funktioniert. Es ist nicht nur eine Biografie, es ist auch eine Auseinandersetzung mit Vergangenheit.

Sie beschreiben sehr eindringlich, was es bedeutet, alt zu werden, Dinge aus der Hand zu geben, ruhiger werden zu müssen. Kennen Sie das auch?

Im Grunde genommen nein, weil ich ja genauso weiter arbeite, wie immer und nach wie vor meine Schreibwerkstätten mache. Vielleicht baue ich da vor. Zulassen und Loslassen, das sind ja lauter sehr schwierige Sachen.

Ist es für Sie anders, über Kinder und Jugendliche zu schreiben, als über jemanden, der am Ende seines Lebens steht?

Ja. Ich habe ja auch mit 60 über die alte Constanze Mozart geschrieben. Damals hat Mira Lobe noch gelebt und gesagt: „Sag einmal Renate, das steht dir doch gar nicht zu, so genau zu wissen, wie es einer 80-Jährigen geht.“ Ich habe wahrscheinlich eine ganz große Aversion gegen Schubladisierungen, in Eigene und Fremde, in Alte und Junge, in Kluge und Weniger-Kluge. Es ist eher immer der eine Mensch, der mich fasziniert und die Frage: Wie kann dieser eine Mensch so sein, wie er oder sie ist. Das ist eine Herausforderung.

Sie sind bei der Eröffnung der Steyrer Literaturtage eine der Ersten beim Neustart des Kulturlebens in Österreich …

Das ist ja reiner Zufall. Einer der Allerjüngsten fällt aus (Clemens J. Setz musste absagen, Anm.), und eine der Allerältesten fällt rein. Das sind wieder so hübsche Spiralen, die sich irgendwo treffen. Manchmal müssen die Alten anschieben, manchmal die ganz Jungen. Vielleicht geht das Werkel nur weiter, wenn alle gemeinsam anschieben.

Wie haben Sie denn selbst die Pandemiezeit erlebt?

Ich habe das Buch fertig geschrieben. Wir konnten im Wald spazieren, im Garten buddeln. Das Schlimmste war, dass Freunde gestorben sind, und dass man bei Verabschiedungen die Angehörigen nicht in den Arm nehmen konnte. Dass man einer Freundin, die den Mann verloren hat, die einzige Art von Trost, wenn es überhaupt einen Trost gibt, nämlich Nähe zu geben, nicht geben hat können … Das war noch viel schrecklicher, als die Tatsache, dass man nicht ins Konzert gehen kann, nicht ins Theater. Das war das, was mich in den Grundfesten erschüttert hat. Weil ich gemerkt habe, wie wichtig Nähe ist. Diese absolute Hilflosigkeit, in der du dastehst, und nicht weißt, warum du Arme hast, wenn du sie nicht verwenden kannst.

Haben Sie vor, über diese Zeit zu schreiben?

Das weiß ich nicht, es dauert ja bei mir so lange, bis es durch alle Siebe durchrinnt. Ich habe ein oder zwei sehr schlechte Gedichte geschrieben, die werde ich sicher nie veröffentlichen. Das meiste, was ich bisher dazu gelesen habe, ist mir ein bisschen kurz gedacht vorgekommen, aber vielleicht habe ich auch die falschen Sachen gelesen. Nicht alles, was ganz schnell aufflammt, ist ein Geniestreich, manches muss sich erst setzen.

„Die alte Johanna“ wurde gerade veröffentlicht, köchelt schon die nächste Idee bei Ihnen?

„Die alte Johanna“ war so eine schwere Geburt! Mein Mann hat gesagt, er habe schon viele Geburten bei mir erlebt, aber die war wirklich besonders schwer. Es brodelt so manches, aufhören werde ich sicher noch nicht.

Mit Autorin RENATE WELSH sprach Mariella Moshammer

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