Ilse Aichinger: Schreiben, schweigen, verschwinden

Vor 100 Jahren, am 1. November 1921, wurde Ilse Aichinger geboren. Die Wiener Schriftstellerin hatte als Jugendliche den Holocaust überlebt, ihren Roman „Die größere Hoffnung“ begann sie inmitten der mörderischen Bedrohung. Das Wesen der Dichterin war anarchistisch, ihr Humor finster.

Ilse Aichinger © APA/picturedesk.com/Contrast

Mit diesem Roman begann die österreichische Nachkriegsliteratur, befand nicht nur der legendäre Literaturkritiker Hans Weigel. „Die größere Hoffnung“, 1948 erschienen, sollte der einzige Roman von Ilse Aichinger bleiben. Die österreichische Nachkriegsliteratur beginnt also so:

„Rund um das Kap der Guten Hoffnung wurde das Meer dunkel. Die Schiffahrtslinien leuchteten noch einmal auf und erloschen. Die Fluglinien sanken wie eine Vermessenheit. Ängstlich sammelten sich die Inselgruppen. Das Meer überflutete alle Längen- und Breitengrade. Es verlachte das Wissen der Welt, schmiegte sich wie schwere Seide gegen das helle Land und ließ die Südspitze von Afrika nur wie eine Ahnung im Dämmern. Es nahm den Küstenlinien die Begründung und milderte ihre Zerrissenheit.“

Ellen, 15 Jahre alt, träumt davon, ihrer Mutter nach Amerika zu folgen. Eine Vision, ein Schiff geht von Hamburg aus in See: „Das Schiff trug Kinder. Kinder, mit denen irgend- etwas nicht in Ordnung war. Das Schiff war vollbeladen. Es fuhr die Westküste entlang und nahm immer noch Kinder auf. Kinder mit langen Mänteln und ganz kleinen Rucksäcken, Kinder, die fliehen mußten.“

Das Ziel ist die Geburt

Was mit den Kindern nicht „in Ordnung“ ist? Sie haben die „falschen“, nämlich jüdische Großeltern. Die Kinder müssen einen Judenstern tragen und dürfen nicht mehr im Stadtpark spielen. Eine Angst, eine Bedrohung, eine widerständige Hoffnung. Eine Wut auch: „Peitscht uns, tötet uns, trampelt uns nieder, einholen könnt ihr uns erst dort, wo ihr lieben oder geliebt werden wollt.“ Die Gestapo holt die Kinder schließlich ab und deportiert sie in ein Vernichtungslager. Ellen bleibt dieses Schicksal erspart, weil sie nur zwei „falsche“ Großeltern hat. Ellen wird am Ende von einer Granate zerfetzt.

1952 erhielt Ilse Aichinger den Preis der „Gruppe 47“ für ihre „Spiegelgeschichte“. Darin erzählt Aichinger das Leben rückwärts von der Bahre bis zur Wiege. Ziel des Lebens, formuliert sie darin, sei der Tag der Geburt, „an dem du schwach genug bist“. Ein Ja zur Ohnmacht, alles soll verlernt werden, auch die Sprache. Zu Sprache hat Aichinger stets ein zwiespältiges Verhältnis, das Verstummen ist stete Möglichkeit. Dennoch, im Gespräch mit der Schriftstellerin Britta Steinwendner sagte Aichinger 1993: „Schreiben hat mir ermöglicht, auf der Welt zu bleiben. Ich glaube, dass ich es nötig gehabt habe, sonst hätte ich es nicht getan. Im Roman ,Die größere Hoffnung´ zum Beispiel dachte ich zuerst, ich schreib einen Bericht, damit man weiß, was geschehen ist. Das war´s nicht. Es war notwendig, für mich jedenfalls.“

Sprache ist nicht mehr in der Lage, ein monströses 20. Jahrhundert zu fassen. Die deutsche Sprache zertrümmert von den Nationalsozialisten, jede Phrase im Verdacht, eine Mordphrase (eine Mordsphrase?) zu sein. Aichinger zur Kritikerin Iris Radisch: „Schreiben ist kein Beruf. Heute nicht mehr. Die Sprache ist zersplittert, das müsste man doch wissen. Robert Musil hat das vollkommen durchschaut. (…) Wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, sage ich ‚privat‘.“

„Schlimmer als der Krieg“

Das „Private“, die „Biografie“. Von einer Schriftstellerin, die sagt: „Verschwinden, das klingt so diffus. Man sagt ja auch in Wien immer so zärtlich ,Verschwind!´ Ich möchte weg sein, eigentlich nie dagewesen sein.“ Geboren wird Aichinger mit ihrer Zwillingsschwester Helga am 1. November 1921 als Tochter einer jüdischen Ärztin und eines Lehrers in Wien. Ihre Kindheit, mitgeprägt durch die frühe Scheidung der Eltern, verbringt sie in Linz (dazu aktuell auch eine sehenswerte Ausstellung im Linzer Stifterhaus!). Später wächst sie in Obhut der mütterlichen Großeltern in Wien auf.

Aichinger muss Schreckliches mitansehen: „Der Anblick meiner Großmutter im Viehwagen auf der Schwedenbrücke in Wien. Und die Leute um mich herum, die mit einem gewissen Vergnügen zugesehen haben. Ich war sehr jung und hatte die Gewißheit, daß meine Großmutter, die mir der liebste Mensch auf der Welt war, zurückkommt. Dann war der Krieg zu Ende, der Wohlstand brach aus, und die Leute sind an einem vorbeigeschossen. Das war noch schlimmer als der Krieg.“

Während des Krieges überlebt Aichinger mit ihrer Mutter in Wien. Nach dem Krieg bricht sie ein Medizinstudium bereits nach fünf Semestern ab, um weiter am 1942 begonnenen Roman „Die größere Hoffnung“ zu schreiben. Ab 1950 arbeitet sie in Frankfurt als Lektorin bei S. Fischer. 1953 heiratete Aichinger ihren Schriftstellerkollegen Günter Eich.

Die gemeinsame Tochter Mirjam wurde Bühnenbildnerin, der Sohn Clemens Eich, Schriftsteller und Schauspieler, verunglückte 1998 tödlich in Wien. Die Familie lebte zunächst in Bayern, dann im österreichisch-bayrischen Grenzort Großgmain. 1972 starb Günter Eich, der Schmerz über den Verlust vermutlich unbenennbar. Aichingers Aufzeichnungen enthalten in diesem Jahr einen einzigen Satz: „Die Gleichgültigkeit einüben.“ 1984 übersiedelte Aichinger nach Frankfurt, seit Ende 1988 lebte sie wieder in Wien.

Als entscheidend für ihr Schreiben nannte Aichinger einmal vier Männer: Günter Eich, Thomas Bernhard, Adalbert Stifter sowie den rumänischen Philosophen E. M. Cioran. Aichinger sah sich weniger als Dichterin denn als durch und durch anarchistisch. Ihr Witz war finster, direkt („Alles Komische hilft mir und macht mich glücklich“). Aichinger starb am 11. November 2016 in Wien. Bereits 1961 hatte sie geschrieben: „Vielleicht, dass es ein solcher Tag sein wird, an dem ich sterben werde: wo die Sonne hereinscheint und alles andere flach macht, Teetassen und Hügel mit den Kreuzwegstationen und die Vorstellung von den alten Frauen hinter den Balkonen, von den geordneten Nachmittagen. Der Schnee wirft die Flächen zurück.“

Von Christian Pichler

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