„In jedem noch so kleinen Ort gab es mindestens ein, zwei Opfer“

Neue Publikation beschäftigt sich u.a. mit dem Thema Kirche und NS-Euthanasie in der Diözese Linz

Die Euthanasie-Anstalt Schloss Hartheim mit aufsteigendem Rauch
Die Euthanasie-Anstalt Schloss Hartheim mit aufsteigendem Rauch © Karl Schuhmann

Schwester Godefrieda war in der Frauenabteilung der Landesirren- und -pflegeanstalt Niedernhart in Linz tätig. Als die Nazis 1940 ihr Euthanasie-Programm, die „Aktion T4“, starteten, erhielt sie von Leiter Rudolf Lonauer die Anweisung, Frauen mit Luminol, einem Betäubungsmittel, zu töten.

Die Ordensfrau verweigerte, woraufhin man die betroffenen Anstaltsinsassinnen in der Männerabteilung ermordete. Schwester Godefrieda musste aber auch Pfleglinge für den Transport in die Euthanasie-Anstalt Hartheim vorbereiten. Ein Auftrag, dem sie wiederum ohne Widerstand nachkam. Die Beweggründe bleiben unklar.

Teils Anpassung, teils Widerstand

„Das Verhalten bestand teilweise aus Anpassung, teilweise aus Widerstand“, sind sich Verena Lorber und Andreas Schmoller vom Franz und Franziska Jägerstätter Institut an der Katholischen Privat-Universität Linz einig, das den neuen Sammelband „NS-Euthanasie: Wahrnehmungen – Reaktionen – Widerstand im kirchlichen und religiösen Kontext“ zusammen mit Florian Schwanninger, dem Leiter des Lern- und Gedenkortes Schloss Hartheim, herausgegeben hat. Dafür haben sich die beiden Historiker mit dem Thema Kirche und NS-Euthanasie in der Diözese Linz beschäftigt. „Es gab ganz unterschiedliche Zugänge und ein Abwägen auf jeder Ebene, kein kollektives kirchliches Handeln, aber trotzdem durchaus Aktionen gegen die Euthanasie. Sehr selten findet man Personen, die — wie Franz Jägerstätter — sehr klar eine Linie verfolgt haben“, so Lorber. Eine einfache Ordensfrau als Beispiel für das Verhalten der gesamten Kirche in der Zeit des Nazi-Regimes.

Man wusste von Anfang an Bescheid

Schon bald, nachdem Hitler mittels Erlass die „Euthanasie“ eingeführt hatte, den ersten industriellen Massenmord der Nazis, der 70.000 Menschen das Leben kosten sollte, habe man in kirchlichen Kreisen relativ genau über die entsprechenden Vorgänge Bescheid gewusst, so Schmoller: „Eigentlich von Anfang an.“ Als Quellen dienten Beziehungen, die es zum Regime gab, aber auch die Basis, etwa die vielen kirchlichen Pflegeeinrichtungen, in denen Menschen mit Behinderungen untergebracht waren, lieferten Informationen über plötzliche Abtransporte und das Ableben von betroffenen Pfleglingen. „T4 war ein sehr breit angelegtes System der Vertuschung“, erklärt Lorber. „Personen wurden in unmittelbarer Umgebung umgebracht, aber häufig ganz andere Aufenthaltsorte vorgetäuscht.“ Die Nazis agierten dabei flächendeckend: „In jedem noch so kleinen Ort in Oberösterreich gab es, statistisch betrachtet, mindestens ein, zwei Opfer“, so Schmoller. Verzweifelte Angehörige wandten sich immer wieder an kirchliche Stellen und baten um die Bestattung der Urnen von Verwandten, die die Behörden gegen Bezahlung herausgegeben hatten. „Die Laien wusste nicht, dass Urnenbestattung erlaubt war, wenn die Einäscherung gegen den Willen des Betroffenen erfolgte“, so Schmoller, „deshalb hat das Ordinariat dies im Diözesanblatt klar gestellt, und zwar schon am 1. Juli 1940, also kurz nach Beginn der Euthanasie-Aktion.“

Menschen, die in der direkten Umgebung von Hartheim lebten, sahen regelmäßig Busse kommen, Rauch aufsteigen, der von einem beißenden Geruch begleitet war. Die Asche der Ermordeten wurde anfangs in die Donau entsorgt, Lastwagen verloren von diesen letzten Überresten immer wieder etwas auf der Fahrt. Die Nazis reagierten auf Gerüchte mit Druck: Bei einer Versammlung in einem Alkovener Gasthaus wurde die Bevölkerung in Anwesenheit der Hartheim-Leitung davor gewarnt, „Lügen“ über das, was dort passieren würde, zu verbreiten.

Die Amtskirche reagiert nur sehr zögerlich

Die Reaktionen der Amtskirche auf die NS-Euthanasie sollten zögerlich bleiben. „Das war in den Bischofskonferenzen immer wieder Thema, es gab aber Unstimmigkeiten darüber“, so Lorber. Man habe sich letztlich gegen öffentlichen Protest entschieden, aber immer wieder Denkschriften und Eingaben bei den Behörden gemacht. Der Protest von der Kanzel blieb weitgehend aus und kam wenn, dann verspätet. Auch die Kirche sei stark vom eugenischen Denken infiziert gewesen, dass man die Menschen in höherwertige und minderwertige eingeteilt habe, aber ganz klar gegen Maßnahmen wie Zwangssterilisation, so Lorber. Eine kirchliche Weisung besagte, dass medizinisches Personal sich nicht an der „Euthanasie“ beteiligen dürfe.

In Linz war in der NS-Zeit zunächst Johannes Maria Gföllner (1867-1941) Bischof. Er hatte sich schon in den frühen 30er-Jahren klar geäußert, dass es seiner Meinung nach nicht vereinbar sei, Nationalsozialist und Katholik zu sein. Seine Ablehnung soll mit ein Grund für zahlreiche Verhaftungen von Priestern durch die Nazis gewesen sein. Das und sein schlechter Gesundheitszustand könnten dazu geführt haben, dass sich Gföllner nach dem Anschluss sehr zurückhaltend und vorsichtig verhalten hat. Auf Gföllner folgte Josef Fließer (1896-1960), der sich mit den Nazis arrangierte und sich aus der Politik heraushielt, um die Seelsorge in seiner Diözese aufrecht zu erhalten.

Die Quellenlage ist bei diesem Thema sehr dünn, es finden sich nur wenige Dokumente dazu. Schmoller und Lorber zeigen aber, dass es mithilfe von regionaler Forschung (Pfarrchroniken, private Briefe etc.) noch einiges zu entdecken gäbe: So sind die beiden Wissenschafter in der Stiftschronik von Schlierbach darauf gestoßen, dass dort 1939, also noch vor Beginn der „Euthanasie“, rund 90 Pfleglinge aus Hartheim kurzfristig untergebracht worden waren. 1940 wurden sie allesamt nach Hartheim verbracht. Aus den Aufzeichnungen des Stiftes geht hervor, dass man gewusst hat, was in Alkoven mit den Menschen passieren würde, so die beiden Autoren.

Die berühmte Predigt von Bischof von Galen

Es gab aber auch Kirchenmänner, die deutliche Worte fanden: In seiner berühmten Predigt beschrieb der deutsche Bischof Clemens August Graf von Galen am 3. August 1941 die Vorgänge der NS-Euthanasie sehr genau und verurteilte sie scharf. Ein mutiges Auftreten, dem man nachsagt, mit Anlass für die offizielle Einstellung der „Aktion T4“ drei Wochen später gewesen zu sein. Dezentral ist das Morden weitergegangen, auch in Anstalten wie Niedernhart. Was im Hinblick auf die Kirche bis heute bleibe, sei, so Schmoller, „trotz mutiger Akte des Widerstands ein gewisser Nachgeschmack: Hat man ausreichend klar und ausreichend früh gehandelt und gesprochen, hätte man nicht mehr tun können?“

Von Melanie Wagenhofer

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