In Zeiten der Pandemie herrscht auf der Balkanroute wenig Verkehr

Als im Februar und März die Corona-Pandemie in Europa ihre volle Wucht entfaltete, reagierten die einzelnen Länder mit Grenzsperren und Ausgangsbeschränkungen. Flüchtlinge und Migranten, die die europäischen Grenzen an den Kontrollen vorbei zu überqueren trachten, saßen plötzlich massiver fest denn je.

„Zwei Monate lang durften wir keinen Fuß aus dem Camp setzen“, berichtet der Afghane Omid Wafa, ein Bewohner des Aufnahmelagers „Principovac“ nahe der westserbischen Stadt Sid. Erst vor drei Wochen hat Serbien den Ausnahmezustand aufgehoben. Für die 20 Aufnahme- und Asylzentren im Land hatte eine strikte Ausgangssperre gegolten. Flüchtlinge und Migranten, die die Polizei unter freiem Himmel antraf, wurden in die Zentren gebracht.

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Doch jetzt, nachdem die Beschränkungen weitgehend gefallen sind, drängt es viele im Lager „Principovac“ wieder zum „Game“ – dem „Spiel“ -, wie sie es nennen. Die Grenze zum EU-Land Kroatien verläuft unmittelbar am Außenzaun des Lagers. Das „Spiel“ besteht darin, die kroatische Grenzpolizei zu umgehen. Wer ertappt wird, muss damit rechnen, dass ihn die kroatischen Ordnungshüter verprügeln, seiner Sachen berauben und über die Grenze nach Serbien zurück verfrachten. (Kroatien bestreitet seit Jahren die von Betroffenen erhobenen und von Menschenrechtlern dokumentierten Vorwürfe.)

An einem Abend Ende Mai verschwindet ein Mittzwanziger aus Indien, mit nichts als seinem Rucksack auf dem Rücken, vor den Augen des dpa-Reporters durch ein Loch im Zaun nach Kroatien. Ein dunkles Gebüsch verschluckt diesen Teilnehmer des „Games“. Ibrahim Yalu, ein Afrikaner aus Sierra Leone, steht daneben und erzählt von seinem Plan eines 13. Versuchs – nach zwölf gescheiterten an dieser Grenze. „Warum lassen sie uns nicht einfach ziehen? Niemand will bleiben. Und warum müssen sie uns schlagen?“, gibt er zu bedenken.

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In der Zeit der großen Flüchtlingswanderungen im Sommer 2015 war die Balkanroute das große Einfallstor in den wohlhabenden Teil Europas. Sie führt von der Türkei über Griechenland, Nordmazedonien, Serbien, Kroatien und Ungarn nach Mitteleuropa, mit Abzweige-Varianten über Albanien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien und Rumänien. Abschottungsmaßnahmen an den Grenzen Ungarns und der am meisten betroffenen Balkanstaaten führten dazu, dass dieser Pfad seit Anfang 2016 als „geschlossen“ bezeichnet wird.

Doch ein gewisser – im Vergleich zu 2015 dünner – Strom an Flüchtlingen und Migranten wanderte auch danach auf der Balkanroute. Erst die Corona-Pandemie brachte diese Bewegungen fast völlig zum Stillstand. Ablesen lässt sich das an den Zahlen, die das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR für Serbien veröffentlichte, eines der Scharniere der Balkanroute. Wurden im Januar 1700 und im Februar 2633 neu in Serbien angekommene Migranten gezählt, so waren es im März 1669 und im April nur noch 270.

Bosnien, das auf einer zunehmend wichtigeren Nebenroute des Balkan-Trails liegt, trat in der coronabedingten „Windstille“ mit einer Verschärfung seiner Migrationspolitik hervor. Der neue Innenminister Fahrudin Radoncic, zugleich Eigentümer der auflagenstärksten bosnischen Tageszeitung „Avaz“, droht den Migranten, sie ins Gefängnis zu werfen oder aus dem Land „rauszuschmeißen“. In der Region Bihac an der Grenze zu Kroatien macht die bosnische Polizei neuerdings Jagd auf Migranten, um sie mit Gewalt in das neue, abgelegene Lager Lipa zu bringen, berichtet die Hilfsorganisation SOS Bihac. Dirk Planert, ihr deutscher Koordinator, beobachtete: „In der ganzen Zeit hat die bosnische Polizei nie Grenzübertritte in die EU verhindert. Nun tut sie es. Warum, das wissen wir nicht.“

Ungarn schloss hingegen Ende Mai seine zwei berüchtigten Transitlager an der Grenze zu Serbien. Hunderte Asylbewerber waren dort seit April 2017 unter harschen Bedingungen interniert. Die Budapester Regierung trennte sich nicht aus freien Stücken davon – ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zwang sie dazu. Das Festsetzen von Schutzsuchenden in den Transitlagern hatten die Richter als rechtswidrige Inhaftierung eingestuft.

Ungarns rechtsnationaler Ministerpräsident Viktor Orban war ein Vorreiter der Abschottungen gegen Migranten. Im Herbst 2015 ließ er einen stacheldrahtbewehrten Zaun an den Grenzen zu Serbien und Kroatien errichten. Das Schließen der „Transitzonen“ in Röszke und Tompa werde es Asylsuchenden nicht leichter machen, erklärte er. Denn von nun an werde Ungarn Asylanträge nur mehr noch in seinen diplomatischen Vertretungen im Ausland entgegennehmen. Das steht vermutlich nicht im Einklang mit dem EuGH-Urteil, das auch auf einen fairen Zugang zum Asylverfahren in Ungarn pochte.

Im serbischen Lager „Principovac“ weiß der Iraker Murtada al-Schibani ein Lied vom ungarischen Transitlager zu singen. Mit Frau, fünf Kindern und zwei Brüdern verbrachte er dort neun Monate, um mit abgelehnten Anträgen nach Serbien zurückgeschickt zu werden. „Es war wie ein Gefängnis“, berichtet er. „Überall Stacheldraht, schlechtes Essen. Als meine Frau krank wurde, brachten sie vier Polizisten wie eine Kriminelle zum Arzt.“ Zumindest dieses Kapitel in der Geschichte der Balkanroute ist zu Ende.

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