Kino lässt Corona vergessen

Christine Dollhofer und ihr letztes Crossing Europe Filmfestival

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Heute startet die 18. Ausgabe des Linzer Filmfestivals Crossing Europe. Und es wird das letzte sein, dem Christine Dollhofer als Chefin vorsteht.

Im Herbst verlässt sie Linz Richtung Bundeshauptstadt und übernimmt dort die Leitung des Filmfonds Wien. Aber vorerst steht für die Oberösterreicherin bis 6. Juni noch eine Zeit voll europäischem Kino und coronabedingten Neuheiten beim Festival an.

VOLSKBLATT: Corona bestimmt auch heuer noch die Umstände des Festivals. Hat sich das Thema in den Filmen schon niedergeschlagen?

CHRISTINE DOLLHOFER: Interessanterweise gibt es ein paar Filme, die vor Corona entstanden sind, die man inhaltlich als Corona-Filme lesen könnte. Etwa „Eden“ unseres ungarischen Jury-Mitgliedes Agnes Kocsis. Darin geht es um eine Frau, die nur in sterilen Räumen leben kann, weil sie sonst nicht atmen kann. Wenn sie rausgeht, muss sie einen Schutzanzug anziehen. Aber einen klassischen Corona-Film gibt es noch nicht. Zeitlich wäre das bei Spielfilmen wegen der langen Vorlaufzeit schwierig, und bei den Dokumentarfilmen gibt es mittlerweile welche, aber die sind erst später gekommen. So Lockdown-Filme habe ich bei den Sichtungen für das Festival von San Sebastián gesehen. Aber wir haben fürs Festival gar keinen ausgesucht, weil ich denke, wir haben alle genug von Corona. Sobald man im Kino ist, kann man Corona vergessen. Wenn man es positiv sieht: Man hat heuer dank Schachbrett auch viel Platz, keinen Kopf vor sich, es wird auch niemand rascheln, weil niemand essen wird.

Werden sich Filme in zwei, drei Jahren nur noch um die Pandemie ranken? Werden Themen wie Migration, Klimawandel, … untergehen?

Nein, das glaube ich nicht. Alles hat mit allem zu tun. Die Klimakatastrophe ist ganz eng mit der Pandemie verbunden. Wir wissen, dass, wenn Schutzräume für Tiere immer weniger werden, solche Viren auch auf Menschen überspringen. Das hat primär mit unserem Verhalten zu tun. Auch werden Gesundheitskrisen Menschen dazu bewegen, weil die wirtschaftliche Situation in ihren Länden dadurch noch schlimmer wird, in die Migration zu gehen.

Gibt es inhaltliche „Trends“ im europäischen Kino?

Im Dokumentarischen werden alle Themen, die Europa bewegen, auf die eine oder andere Art behandelt. Ob das die Grenze Europas ist, Migration, Jugend im Aufbruch, MeeToo-Bewegung. All diese Identitätsfragen streifen auch die Filme. Es gibt aber auch Filme, die zum Eskapismus einladen, wo man sich nicht mit den großen Problemen beschäftigen muss. Ob das mit der Nachtsicht ist, oder auf sehr gewiefte Weise im Eröffnungsfilm „Ich bin dein Mensch“ von Maria Schrader, der sehr unterhaltsam eine Dystopie behandelt, wo Robotermenschen als ideale Partner programmiert werden. Jeder wird etwas für sich finden.

Wenn jemand für fünf Filme Zeit hat. Was schaut er?

Ich würde einen Film aus dem Local Artists-Programm anschauen, da haben wir sieben Weltpremieren. Dann einen Dokumentarfilm mit einem Thema, für das man sich interessiert, und Spielfilme. Im Panorama sind Festivalhighlights versammelt, in den Wettbewerbssektionen zeigen wir auf internationalen Festivals Ausgezeichnetes von einer eher jüngeren Regiegeneration. Die Young Programmers haben einen eigenen Wettbewerb gestaltet. Es ist interessant, was die sich für Filme ausgesucht haben.

Könnten Sie nach so vielen Filmen, die Sie fürs Festival gesichtet haben, sagen: Das sind meine fünf Favoriten?

Ich bin nicht der Maßstab aller Dinge, weil ich so viel sehe. Aber es gibt Arbeiten im Programm, die finde ich einfach großartig. Das ist etwa „Nemesis“von Thomas Imbach, der jahrelang von seinem Atelierfenster aus, wo ein Gefängnis für Schubhäftlinge errichtet wurde, gefilmt hat. Damit erzählt er sehr viel über unsere Gesellschaft, aber auch ganz Persönliches. Ein sehr intensiver Film. Ich finde auch die Gedenkfilme wie „Endphase“oder „Surviving Gusen“ gut. Oder „The Wire“, wo es um die slowenisch-kroatische Schengengrenze geht. Ich tue mir aber immer schwer, einzelne Filme zu nennen.

Ist jetzt eine Chance fürs Kino als Gemeinschaftserlebnis, wo wir so lange fast nur fernsehen und streamen konnten?

Es ist eine Übersättigung von Online-Veranstaltungen da. Ich glaube, wir sind alle froh, ins Kino zu gehen und zu wissen, da sitzen jetzt auch andere und schauen sich den Film an. Kino wird so wie Vinyl und Theater nicht verschwinden. Aus wirtschaftlicher Sicht bringt auch für die großen Studios der Verkauf der Einzeltickets am meisten. Mit Streaming kann man nie so viele Einnahmen machen wie im Kino. Das Allerwichtigste im Filmbereich ist, dass wir die junge Generation fürs Kino begeistern, wo man sich 90 Minuten auf etwas konzentriert und nicht nur schnelle Bilder konsumiert, durch die man zappt.

Blieben eigentlich 2020 viele Filme auf der Strecke?

Leider ja und das schmerzt sehr. Nur als Beispiel: Auf Netflix habe ich einige Filme gesehen, die in Venedig im Wettbewerb gelaufen sind und die gar nicht ins Kino gekommen sind oder nur ganz kurz. Die sind jetzt schon als Streaming verfügbar. Und jetzt kommt dann der totale Overkill. Es werden ganz viele Filme in den Kinos starten und die werden sich kannibalisieren. Manches wird auch gar nicht kommen, manche Filme werden auf Streaming-Plattformen oder direkt im Fernsehen landen. Es wurde ja, wenn auch unter schwierigen Auflagen, weitergedreht. Alleine in Österreich warten rund 20 Filme auf einen Kinostart.

Da heißt es, den Überblick behalten …

Was immer wichtiger wird, ist, dass das Angebot kuratiert wird. Und dass die Plattformen für ein bestimmtes Profil stehen, dem die Zuseher dann vertrauen können. Ein Festival ist so eine Möglichkeit, sich zurechtzufinden. Wir kuratieren aus 1700 Filmen, die pro Jahr in EU-Europa produziert werden. Daraus suchen wir in normalen Jahren 140 aus: das Substrat, der Feinkostladen.

Crossing Europe kann heuer 67 Prozent seiner Platzkapazität nutzen. Wie geht sich das finanziell aus?

Ich habe mich bei Crossing Europe auch während der Pandemie nie allein gelassen gefühlt, was die Institutionen betrifft. Die Fördergeber von Stadt, Land und Bund sind immer hinter uns gestanden. Wir konnten das Festival von finanzieller Seite mit einem guten Gefühl vorbereiten. Wir mussten etwa ein neues Ticketing einführen, haben dafür aber andere Sachen eingespart, wie Rahmenprogramme, die ohnehin nicht erlaubt sind. Wir haben umverteilt und insofern kommen wir mit unserem Jahresbudget aus. In Summe kommen wir hin.

Crossing Europe ist volljährig, ist 18 Jahre ein gutes Alter, um loszulassen?

Es ist irgendwie ein sympathisches Alter, aber natürlich hätte ich mir für mein letztes Festival eine einfachere und lebendigere Ausgabe gewünscht, in voller Blüte. Aber es ist, wie es ist, und das Festival ist gut verankert, hat einen guten Ruf, steht auf guten Säulen. Ich finde es gut, dass wieder einmal ein frischer Wind hineinkommt und andere Leute Entscheidungen treffen. Man muss auch wirklich loslassen. Das kennt man von Familienbetrieben. Es ist wichtig, dass man sich dann auch abkoppelt.

Was genau werden Ihre Aufgaben in Wien sein?

Der Filmfonds Wien hat ein Budget von 11,5 Millionen Euro. Dort können Fernseh- und Filmprojekte eingereicht werden, die den Wiener Brancheneffekt gewährleisten, also es muss Geld in Wien ausgegeben werden. Es ist sicher ein sehr administrativer Job, aber man kann auch gestalten und Veränderungen vorantreiben. Wichtig ist, dass man in die Branche hinein hört, was die Bedürfnisse sind, wo die Zukunftsperspektiven sind, wie man den österreichischen Film am heimischen und internationalen Markt attraktiver machen kann.

Nach dem Festival wird sich um Ihre Nachfolge gekümmert. Was wüschen Sie sich von Der- oder Demjenigen?

Diesen europäischen Spirit weiterzuleben und die Bindung an die Stadt, die Region. Es ist wichtig, ein Festival aus der Region heraus zu gestalten. Das ist das Schöne, dass Crossing Europe seinen Platz hat in der österreichischen „Dreifaltigkeit“ — Viennale Weltkino, Diagonale nationales und Crossing Europe europäisches Kino — aber gleichzeitig so in der Region und Linz verankert ist.

Mit CHRISTINE DOLLHOFER sprach Mariella Moshammer

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