Karl Kraus: Publizist, Satiriker, Sprach- und Medienkritiker

Als Elias Canetti 1981 den Literaturnobelpreis erhielt, nannte er vor Franz Kafka, Robert Musil und Hermann Broch an erster Stelle Karl Kraus als Beispiel für österreichische Schriftsteller, die diese Ehre nie erhalten, sie aber mehr verdient gehabt hätten als er.

US-Autor Jonathan Franzen stellte 2014 in seinem „Kraus-Projekt“ fest: „Vieles von dem, was Kraus schrieb, trifft unsere Zeit noch genauer als seine eigene.“ Am 28. April wird der 150. Geburtstag von Kraus gefeiert.

Lesen Sie auch

Einfluss auf eine ganze Generation

Karl Kraus (1874-1936) war ein eigenwilliger Charakter, über lange Strecken seines Lebens ein unerbittlicher Einzelkämpfer und entfaltete dabei einzigartige Bedeutung für Literatur, Politik und Pressewesen.

„Ich habe durch Sie Schreiben, ja fast Denken gelernt“, schrieb Arnold Schönberg 1911 an Kraus. Tatsächlich kann der Einfluss, den der Publizist durch seine von 1899 bis 1936 herausgegebene Zeitschrift auf eine ganze Generation ausübte, gar nicht überschätzt werden. Die 922 Nummern und 20.000 Seiten umfassende und ab 1911 praktisch im Alleingang verfasste Publikation prägte bei ihrem Erscheinen mit den charakteristischen roten Umschlägen das Straßenbild und mit ihren satirischen bis polemischen Inhalten die Diskussionen der Stadt. Noch Jahrzehnte später, als der Verlag Zweitausendeins 1977 einen zwölfbändigen Reprint herausbrachte, war dieser Nimbus spürbar.

Karl Kraus wurde 1874 in der böhmischen Kleinstadt Jičín als neuntes Kind einer bürgerlichen jüdischen Familie geboren. 1877 übersiedelte der Papier- und Ultramarinfabrikant Jacob Kraus mit seiner Familie nach Wien, um sein Unternehmen weiter auszubauen. Ab 1880 besuchte Karl die Volksschule in Wien, 1884-92 das Gymnasium an der Stubenbastei, danach die Universität Wien, wo er (ohne Abschluss) Jus, Philosophie und Germanistik studierte.

Noch in der Schulzeit suchte er Anschluss an den Literatenkreis „Jung-Wien“ rund um Felix Salten, mit dem er 1896 in seiner Satire „Die demolierte Literatur“ auf Aufsehen erregende Weise brach – was Kraus dazu ermutigte, seine Mitarbeit an diversen Zeitungen einzustellen und sich auf sein eigenes Projekt zu fokussieren: „Die Fackel“. Darin konzentrierte er sich auf zwei Dinge, die auch heute nichts an Aktualität eingebüßt haben: Sprach- und Medienkritik. Seine Unerschrockenheit und Scharfzüngigkeit sorgte dafür, dass er ebenso viele Fans wie Feinde hatte.

Gegen die Unmenschlichkeit des Krieges

Nahezu einhellig positiv wurden jedoch seine Vorträge und Rezitationsabende aufgenommen, die er in verschiedensten europäischen Städten hielt. Seine Lesungsabende im Wiener Konzerthaus wurden regelmäßig gestürmt. Dabei las er auch dramatische Literatur, etwa der von ihm verehrten Autoren Shakespeare und Nestroy. Einem „Marstheater“ zugeeignet war dagegen sein ab 1915 entstandenes Monumentaldrama „Die letzten Tage der Menschheit“, mit dem er sich konsequent gegen die Unmenschlichkeit des Krieges wandte und die Mit- und Zuarbeit der Presse anprangerte („Die grellsten Erfindungen sind Zitate“). Dieses Stück sorgt auch dafür, dass Karl Kraus auf den Bühnen weiterhin präsent bleibt – während Bühnenwerke wie „Wolkenkuckucksheim“ (1923) oder „Die Unüberwindlichen“ (1928) heute nur höchst selten aufgeführt werden.

Unzählige scharfe Aphorismen

Während seine Lyrik – wie etwa seine Nachdichtungen von Shakespeare-Sonetten – heute kaum eine breite Leserschaft hat, dürften seine unzähligen scharfen Aphorismen im Kraus-Jahr 2024 neue Popularität erreichen. Aussagen wie „Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage, und ich sage nicht, was sie hören möchte“ sind nicht nur in einer vom Wallstein Verlag herausgegebenen Neuausgabe von Hans Wollschlägers 1980 erstmals erschienenem „Karl Kraus Lesebuch“ wieder zu lesen.

Ein großes Projekt zum Kraus-Jahr hat sich die Wienbibliothek im Rathaus vorgenommen. Sie beherbergt seit den 1950er-Jahren das Karl Kraus-Archiv und verfügt über einen reichen Bestand an Manuskripten, Druckfahnen, Briefen und Lebensdokumenten. Dieser soll auf einem Karl Kraus-Portal der Internetplattform „Wien Geschichte Wiki“ digital zur Verfügung gestellt werden und zur persönlichen Ergänzung einladen. Dabei sei es ein Anliegen, „Karl Kraus durchaus kritisch in Kontext zu setzen“ und auch „problematische Aspekte seiner Person und seines Werkes wie Antisemitismus oder Misogynie öffentlich zu thematisieren und zu debattieren“, heißt es. Dazu trägt etwa der jüngste Ankauf einer Korrespondenz mit der sehr jungen Schauspielerin Irma Karczewska bei, die sie sich in den frühen 1930er-Jahren in einem ebenfalls in der Wienbibliothek befindlichen Tagebuch kritisch zu ihrer Beziehung mit Kraus äußerte.

„Mir fällt zu Hitler nichts ein“

Kraus’ Beziehung zu Karczewska behandelt auch Jens Malte Fischer in seiner 2020 erschienenen Biografie „Der Widersprecher“. Der Begriff der Pädophilie sei bei dieser Beziehung nicht zutreffend, da im damals gültigen Strafgesetzbuch junge Frauen ab 14 Jahren als heiratsfähig galten, schreibt Fischer, der auf 1.100 Seiten auch Aspekte wie „Kraus und die Moral“, „Kraus und das Judentum“, „Kraus und die Psychoanalyse“ oder „Kraus und die Sozialdemokratie“ behandelt. Ein Kapitel heißt „Hitler, Dollfuß, Dritte Walpurgisnacht“. Mit dem berühmten Satz „Mir fällt zu Hitler nichts ein“ beginnt Kraus seine umfangreiche und hellsichtige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die erst 1952 posthum als „Dritte Walpurgisnacht“ veröffentlicht wurde. Dass er dem autoritären christlichsozialen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß mehr Chancen im Kampf gegen die Nazis einräumte als der österreichischen Sozialdemokratie, sorgte dagegen unter seinen Anhängern für große Irritationen. Den „Anschluss“ und damit den Beginn der NS-Herrschaft in Österreich musste er nicht mehr miterleben. Karl Kraus starb am 12. Juni 1936.

Das könnte Sie auch interessieren