Aktuell: „Die kurze und schreckliche Regentschaft von Phil“

An der Spitze der Bestenliste: Satire von George Saunders © APA/APA / Luchterhand Verlag

Sie hat schreckliche Aktualität: „Die kurze und schreckliche Regentschaft von Phil“ ist eine Parabel auf die Mechanismen der Macht, die eine Demokratie rasch in eine Diktatur verwandeln können. Dass seine 2005 erschienene Satire so aktuell werden könnte, hätte er sich nie gedacht, räumt US-Autor George Saunders anlässlich der nun erschienenen deutschen Übersetzung ein. Das Buch, das stark an George Orwells „Animal Farm“ erinnert, führt im Dezember die ORF-Bestenliste an.

„Animal Farm“ erschien 1945, erzählte von einem Aufstand der Tiere, der unter der Führung des Schweins Napoleon immer autokratischere Züge annimmt, und war auf die Auswüchse des Kommunismus, die zum Stalinismus führten, gemünzt. Als „Die kurze und schreckliche Regentschaft von Phil“ erstmals erschien, „warfen mir ein paar Kritiken vor, eine billige Satire auf das George-Bush-Regime geschrieben zu haben“, erinnert sich nun George Saunders. „Wenn ich es jetzt lese, kommt es mir ein bisschen so vor, als hätte ich Donald Trump vorausgesagt, noch so einen Möchtegern-Autokraten, der etwas darüber gelernt hat, welche Macht die Ausbeutung einer Bevölkerung mit hemmungsloser, gewalttätiger, inkohärenter Sprache darstellt.“

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Dabei beteuert der 65-Jährige, der vor einigen Jahren mit seinem teilweise in einer Zwischenwelt im Übergang vom Leben zum Tod spielenden Roman „Lincoln in the Bardo“ nicht nur die Booker-Preisjury begeisterte, dass er beim Schreiben des Buches eigentlich keinen politischen, sondern einen sprachkritischen Ansatz verfolgt habe. „Ich hatte kein Thema, keine explizite Absicht. Ich versuchte einfach nur, normale Sprache zu vermeiden und in jeden Satz einen Schuss Seltsamkeit zu injizieren.“ Erst allmählich hätten sich „diverse Arten von Dysfunktionalität des 20. Jahrhunderts“ in seine Geschichte hineinreklamiert, vom Nationalsozialismus und dem Völkermord in Ruanda bis zu „verschiedenen fremdenfeindlichen Tendenzen im Kielwasser von 9/11 in den USA“. Fast könnte man sagen: Das heutige Reflektieren des Autors über sein Buch im Nachwort liest sich spannender als die rund 100-seitige Hauptgeschichte.

Diese leidet nämlich einerseits am buchstäblich verengenden, unklaren Setting wie am baldigen Gefühl des Lesers, er habe einst bei George Orwell eine sehr ähnliche Geschichte gelesen – allerdings deutlich nachvollziehbarer beschrieben. Während nämlich in der „Animal Farm“ sich die Tiere gegen die Menschen verbünden und die Schweine in der Folge ein System der Ungleichheit unter den Hoftieren errichten, erfindet Saunders ein Mini-Land namens Innen-Horner, das so klein ist, dass sechs der sieben Innen-Horneriten jeweils in einer „Kurzzeitaufenthaltszone“ des umgebenden Landes Außen-Horner warten müssen, „bis sie dran waren, in ihrem eigenen Land zu leben“. Die Grenz- und Territorialkonflikte sind also vorprogrammiert, und Phil, „ein Außen-Hornerit in den mittleren Jahren, der allgemein als etwas verbitterter Versager betrachtet wurde“, und vor Jahren von einer Inner-Horneritin, in die er verliebt war, abgewiesen wurde, sieht die Stunde seiner Rache gekommen. Er, dem immer wieder das Gehirn von der Ablage rutscht, verfällt bald in einen Machtrausch und unterwirft die armen Nachbarn immer groteskeren Verboten und Einschränkungen, die bis ins Detail an die NS-Politik gegen Juden erinnern.

Die Innen- und Außen-Horneriten scheinen aber nicht einfach nur Hornvieh zu sein, sondern seltsame, aus Einzelteilen zusammengebaute Mischwesen, die im Falle ultimativer Gewalt nicht nur metaphorisch, sondern auch ganz buchstäblich auseinandergenommen werden können – oder wieder neu zusammengesetzt. Denn am Ende tauchen – ganz Deus ex machina – zwei riesige Schöpfer-Hände aus dem Himmel auf, nehmen die Innen- und Außen-Horneriten behutsam auseinander, und bauen sie zügig in einer neuen, hoffentlich weniger für ausgeprägten Egoismus anfälligen Kombination zusammen. Nur Phils Teile werden nicht wiederverwendet. Sein Gehirn dient als Fischfutter, sein Körper als abschreckendes Denkmal. „Phil, stand auf dem Schild. Monster.“

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(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)

George Saunders: „Die kurze und schreckliche Regentschaft von Phil“. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Mit Illustrationen von Ben Gibson und einem Nachwort des Autors. Luchterhand Literaturverlag, 144 Seiten, 20,60 Euro