Andrea Grills „Perfekte Menschen“: Blick in eine kaputte Welt von morgen

Geschrieben wird schon lange nicht mehr, Flüsse werden unter die Erde verbannt, und die digitalen Begleiter sind zur Staatsbürgerpflicht geworden: In ihrem dystopischen Roman „Perfekte Menschen“ (Leykam Verlag, 168 Seiten, 25,50 Euro) entwirft die gebürtige Bad Ischlerin Andrea Grill auf Basis eines albanischen Mythos ein Gesellschaftspanorama in Zeiten von Überwachung, Entfremdung und Klimakatastrophe. Darin trifft Grills präzise Sprache auf eindringliche Bilder, die sich noch lange im Hinterkopf festsetzen.

Zukunft ohne Schrift und Flüsse

Im Zentrum steht Michael, der in der Mitte des 21. Jahrhunderts mit seinen Eltern Helena und Milosh in Mats lebt – einem Ort in Europa, der von der Klimakatastrophe aufgrund seiner geografischen Lage noch halbwegs verschont geblieben ist. Während die Eltern ihrer Arbeit nachgehen – der Vater programmiert, die Mutter ist Profi-Schwimmerin – sitzt der kleine Bub mit seinem digitalen Freund, dem sogenannten „Playmate“, in seiner 3-D-Illusionen generierenden Spielkoje. Kontakt zur Außenwelt besteht kaum, Bildung, Unterhaltung und Kommunikation in Form von Videonachrichten finden über „Fieelys“ statt, die der Staat den Menschen nicht nur zur Verfügung stellt, sondern sie auch zu deren Nutzung verpflichtet.

Nachdem Michael als Baby in den Bach vor dem Haus gefallen und dem Tod nur knapp entkommen war, ist das Flussbett aufgrund einer Petition trocken gelegt worden. Ein Schicksal, das Gewässern in den kommenden Jahren generell drohen wird – auch um das wertvolle Nass auf einer immer heißer werdenden Erde direkt dorthin zu führen, wo es gebraucht wird. Kurz nach dem Sturz in den Fluss legt sich jedoch ein eigenartiger Nebel über die Landschaft und das Leben gerät aus den Fugen: „An dem Tag begannen die Entführungen. Und von da an schlugen die Tage aneinander wie lose Bretter im Wind“, schreibt Grill und lässt dem Unheil freien Lauf.

Entführt, um als Kämpfer ausgebildet zu werden

Als Michael acht Jahre alt ist, wird er – so wie erschreckend viele Buben dieses Alters – von unbekannten, bewaffneten Männern entführt und in ein weit entferntes Camp gebracht, wo Buben zu Kämpfern ausgebildet werden und er seinen neuen Namen – Balaban – erhält. Nach der Entführung zerbricht die Ehe der Eltern, und Grill nimmt ihre Leser mit in jenes Camp, in dem die jungen Burschen vor allem eines sollen: ihre Vergangenheit vergessen, alte Filme schauen und kämpfen. Doch Michael ist dazu nicht bereit: Er erfindet eine eigene Schrift, mit der er in den Sand schreibt, um mit seiner Mutter in Kontakt zu treten – nicht wissend, ob sie überhaupt noch am Leben ist. Gemeinsam mit zwei Freunden wagt er schließlich irgendwann, aus dem Camp auszubrechen. Doch die Welt außerhalb ist ganz anders, als er sie in Erinnerung hat …

Mitreißende Geschichte mit emotionaler Tiefe

Die 2021 mit dem Anton-Wildgans-Preis ausgezeichnete Autorin, die im Vorjahr mit dem Kinderbuch „Bio-Diversi-Was?“ eine „Reise in die fantastische Welt der Artenvielfalt“ vorgelegt hat und in Romanen wie „Das Paradies des Doktor Caspari“ auch ihr Wissen als studierte Biologin mit großer Sachkenntnis literarisch transformiert hat, schafft es erneut, ihren liebevoll gezeichneten Figuren emotionale Tiefe einzuhauchen und eine mitreißende Geschichte zu erzählen, die angesichts des technologischen Fortschritts und der Klimaerwärmung gar nicht mehr so utopisch zu sein scheint.

Von Sonja Harter

 

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