„Animalia“: Das Tier im Menschen bahnt sich seinen Weg

Kino: Thomas Cailleys Film zwischen Coming of age und Body-Horror à la David Cronenberg

Émile (Paul Kircher) wird in „Animalia“ erwachsen — und zum Tier.
Émile (Paul Kircher) wird in „Animalia“ erwachsen — und zum Tier. © Studiocanal

Einst war es das Schuppentier, das im Verdacht stand, SARS-CoV-2 zu den Menschen gebracht zu haben. Meldungen gingen um die Welt, ein Virus, vom Tier auf den Menschen übertragen, für den einen harmlos, für den anderen letal.

Der französische Filmemacher Thomas Cailley („Liebe auf den ersten Schlag“) geht in seinem Film „Animalia“ (im Original „Le règne animal“, zu Deutsch: „Das Tierkönigreich“) einen anderen Weg, die Idee dazu entstand bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie. Ein paar Wochen, nachdem Cailley mit Pauline Munier angefangen hatte, das Drehbuch zu schreiben, begann der erste Lockdown. Die Normalität veränderte sich. Und so geschieht dies auch in „Animalia“.

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Auch hier befällt die Menschen eine unbekannte Krankheit, sie bricht langsam aus, die Körper der Infizierten beginnen sich zu verändern. Bei dem einen sind die ersten Spuren im Gesicht zu sehen, Mund und Nase verschmelzen, ein Gewächs aus Horn formt sich. Einem anderen wachsen borstige Haare am ganzen Körper, Zähne fallen aus, Reißzähne wachsen nach. Die Menschen verwandeln sich. War es bei Kafka einst ein Käfer, als der Gregor Samsa plötzlich erwachte, sind es bei Cailley unterschiedlichste Tiere, die sich ihren Weg durch die Menschenhaut bahnen.

Die reale Welt ist in der fantastischen angekommen

Vergangene Woche startete Hayao Miyazakis „Der Junge und der Reiher“ in den heimischen Kinos. Immer wieder verwandeln sich beim Anime-Altmeister Tiere in Menschen und umgekehrt, sie steigen aus der Haut des andern, drängen sich durch Münder, schälen sich aus den Hüllen. Auch bei Cailley, der sich als Fan von Miazakis Filmen outet, bahnt sich das Tier im Menschen seinen Weg, die Augen bleiben lang menschlich, auch das Verhalten.

Seine Stimme verändere sich zunehmend, sagt der junge Mann, der immer mehr zum Adler wird. Bald ist der Moment gekommen, an dem nur noch tierische Laute von ihm zu hören sind. Sein Gesicht ist verstümmelt, anfangs wurde mit plastischer Chirurgie auf die Krankheit reagiert, später werden die Monster, Biester, Mutanten, Kreaturen in ein eigens gebautes Krankenhaus gebracht, weggesperrt von jenen „echten“ Menschen, die sich in verschiedene Lager spalten.

Da sind die, die den Wesen nachjagen, sie fürchten, sie töten. Und die anderen, die sagen, das seien doch auch Lebewesen. Und ja, eigentlich auch immer noch irgendwie Menschen. Die reale Welt ist in der fantastischen angekommen.

Émile bemerkt erste körperliche Veränderungen

Francois (Romain Duris) hat seine Ehefrau so lange wie möglich zuhause behalten. Bis sie den 16-jährigen Sohn Émile (Paul Kircher) angegriffen hat. Dann kam sie in eine Klinik, nun soll sie in den Süden in das Spezialkrankenhaus verlegt werden. An der Wand Spuren des Widerstands, tiefe Kerben von Krallen in den Verputz gerissen. Doch der Transporter verunglückt, die Mensch-Tier-Wesen fliehen in die angrenzenden Wälder, die Bevölkerung achtet auf jedes kleine Geräusch in der Umgebung. Und Émile bemerkt erste körperliche Veränderungen an sich…

Thomas Cialley hat einen richtig spannenden Film zwischen SciFi-Horror und Coming-of-Age-Drama geschaffen, der dank virtueller Möglichkeiten nicht mit realistischen Darstellungen geizt. Der Filmemacher schafft faszinierende Bilder, ein Oktopusmädchen im Supermarkt, ein Chamäleonkind, dass sich dem Baumstamm anpasst, auf den geklammert es sich vor den Jägern versteckt.

Den „reinen“ Menschen begegnen viele der Tierwesen aggressiv. Cialley zeigt quasi als Erklärung in kurzen Sequenzen Versuchstiere, lässt Bezeichnungen wie „Drecksköter“ beiläufig einfließen und erkennen, dass Instinkte uns alle lenken.

„Animalia“ ist ein optischer Genuss, der genug Raum zum Gruseln, aber auch Reflektieren lässt. Wenn sich Krallen aus Menschenfingern pressen und sich Wirbelsäulen verbiegen, ist das Body-Horror à la Cronenberg par excellence. Wenn die Liebe zwischen Vater und Sohn dazu führt, dass der eine den anderen in die Welt hinausschickt, ist das Coming of age wie aus dem Bilderbuch. Die Verknüpfung funktioniert hervorragend, wenn sie auch nicht wirklich neu ist. Dazu tragen auch die beiden Hauptdarsteller bei, vollends überzeugt Paul Kircher als unsicherer Teenager, der langsam den Wolf in sich entdeckt.

Von Mariella Moshammer

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