Anna Gschnitzers „Capri“ als turbulenter Selbstfindungstrip

Gschnitzer legt Finger auf die offene Wunde einer Generation © APA/Schauspielhaus Wien/Marcella Ruiz Cruz

Woher kommt sie bloß, diese unendliche Erschöpfung junger, privilegierter Frauen? Rührt sie aus dem anstrengenden Klassenaufstieg oder ist es vielmehr jene transgenerational angehäufte Erschöpfung, die sich unsere Mütter und Großmütter nicht leisten konnten? Fragen wie diesen widmet sich Anna Gschnitzer in ihrem neuen Stück „Capri“, das Valerie Voigt am Mittwoch im Schauspielhaus Wien höchst unterhaltsam mit einem starken Frauenquartett zur Uraufführung gebracht hat.

Die junge Ich-Erzählerin hat es geschafft: Raus aus der Arbeiterschaft, hinein in ein geisteswissenschaftlich geprägtes Intellektuellenmilieu, in dem sie mit Texten über ihre prekäre Herkunft Fuß gefasst hat. Alles könnte so gut laufen, wären da nicht die drängenden Erinnerungen an die Deadline für den neuen Roman, die in kürzer werdenden Abständen vom Verlagslektor kommen. Doch bevor sie sich an den Schreibtisch setzen kann, ist ihre Kraft kurz nach Mittag bereits wieder aufgebraucht. Und seit sie in einem alten Karton ein Foto von einem Kind gefunden hat, das im Jahr 1968 mit Sonnenbrille am Strand von Capri steht, sitzt dieses Mädchen in der Nacht in der Küche und trinkt Orangensaft. Könnte das tatsächlich das jüngere Ich ihrer Mutter sein? Aber wie soll das gehen? Ihre Mutter war als Kind nie auf Urlaub. Also macht sich die junge Frau in jenes Dorf auf, in dem die Mutter ihr glanzloses Pensionistinnenleben führt. Vielleicht bekommt sie nicht nur Antworten, sondern endlich Inspiration für ihren Roman…

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Thomas Garvie hat die Schieflage, in der sich das Leben der jungen Autorin befindet, auf der Bühne in eine spiegelglatte, steile Schräge übersetzt, auf der Iris Becher, Florentine Krafft und Sissi Reich in ihren hautfarbenen Neoprenanzügen (Kostüme: Katia Bottegal) herumklettern, rutschen und immer wieder orange Bälle rollen lassen. Untermalt wird der turbulente Selbstfindungstrip von bedrohlichen Rhythmen von Katharina Ernst am Schlagzeug. Voigts Entscheidung, die Ich-Erzählerin gleich dreifach zu besetzen, entpuppt sich im Laufe des 100-minütigen Abends als hervorragender Schachzug, der es ermöglicht, die widerstreitenden Gedankengänge dialogisch abzubilden. Die Fahrt zur Mutter wird zu einer Art Heilsversprechen, in dem die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft sich als Lösung aller Probleme manifestiert.

Doch die Luftballons auf der Rückbank – die Mutter hat Geburtstag – haben auch das Kind mit der Sonnenbrille angelockt, das nun schweigend mitfährt. Das ist zu viel für die junge Frau, die vor lauter Schreck in einen Tagtraum kippt, in dem sie nicht nur ihren eigenen Eizellen und somit ihrem vielleicht doch unterdrückten Kinderwunsch begegnet, sondern selbst zu jener Eizelle wird, die bereits im Fötus ihrer Mutter angelegt war, als diese noch in der Gebärmutter ihrer eigenen Mutter schwamm. Es ist eine mehr als absurde Szene, in die Gschnitzer auch gleich noch Kritik an feministischen Empowerment-Retreats verpackt hat, etwa wenn die Eizelle sagt: „Pscht! Wir sind gerade mitten in einer Meditationsreise, in der wir innere Kräfte mobilisieren, um uns von der Indoktrination des Patriarchats zu befreien.“ Sind es also vielleicht doch keine Eizellen, sondern „pseudofeministische, wellnesskapitalistische Performancekünstlerinnen“, die hier die Kinderwunsch-Deadline mit der Autorinnen-Deadline vermantschen?

Als die drei schließlich bei der Mutter (Ursula Reiter) ankommen, geben sie ein recht derangiertes Bild ab. Und müssen zugeben, dass es wohl die Psychopharmaka sind, die diesen Wahnzustand evoziert haben könnten. Um endlich Stoff für den Roman zu generieren, ersinnen sie einen Roadtrip nach Capri, auf dem die Mutter mit der Frage nach dem vergilbten Foto konfrontiert werden soll. Was folgt, ist das Abbild einer Mutter-Tochter-Beziehung, wie sie wohl viele im Publikum wiedererkennen. Gschnitzer widmet sich pointiert-humorvoll Schuldzuweisungen, Verletzungen und Erziehungstraumata. Immer schwingt auch der gesellschaftliche Aufstieg mit, den die Tochter (scheinbar) aus eigener Kraft vollzogen hat, während die Mutter es nie aus der Abwärtsspirale der unbezahlten Carearbeit herausgeschafft hat. Der Moment, in dem die Mutter verständnislos auf den Anspruch der Tochter reagiert, die Klofrau an der Tankstelle doch bitte respektvoll als „Putzkraft“ anzusprechen und stattdessen ein Plädoyer für die Arbeiterklasse hält, gehört zu einer der vielen starken Szenen des Abends, der so manche allzu dünne feministische Position von heute aufs Korn nimmt.

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Gschnitzer, 1986 in Innsbruck geboren und in Deutschland mit Stücken wie „Fallen“ (Publikumspreis beim Münchener Förderpreis für deutschsprachige Dramatik) oder „Einfache Leute“ (Publikumspreis beim Heidelberger Stückemarkt) erfolgreich, legt in diesem Auftragswerk für das Schauspielhaus den Finger auf die offene Wunde einer Generation, die zwischen Empowerment und Burnout nach sich selbst sucht. Lang anhaltender Jubel für einen im doppelten Wortsinn schrägen Abend.

(Von Sonja Harter/APA)

„Capri“ von Anna Gschnitzer, Uraufführung am Schauspielhaus Wien. Regie: Valerie Voigt, Bühne: Thomas Garvie, Kostüme: Katia Bottegal, Musikalische Leitung: Katharina Ernst. Mit Iris Becher, Florentine Krafft, Sissi Reich und Ursula Reiter. Weitere Termine: 9. und 10. Mai sowie 8.-11., 22.-24. Oktober. schauspielhaus.at

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