Aus dem Nachlass: Siegfried Lenz‘ „Dringende Durchsage“ erscheint

Bisher unveröffentlichte Geschichte „Heimweh oder so etwas Ähnliches“ in neuem Sammelband enthalten - Anlässlich des 10. Todestags

Zum 10. Todestag von Siegfried Lenz erscheint ein Sammelband mit Erzählungen des Autors. © APA/AFP/DPA/FABIAN BIMMER

Ein Paar Stiefel – unheimlich groß, bis auf die Schenkel reichend und im Schaft durch Löcher verunstaltet – ist Dreh- und Angelpunkt einer frühen und bisher unveröffentlichten Geschichte von Siegfried Lenz („Deutschstunde“). Der knappe, in lakonischer Alltagssprache in zwei Versionen verfasste Text trägt den Titel „Heimweh oder so etwas Ähnliches“ und steht nun im neuen Sammelband „Dringende Durchsage“, der zum 10. Todestag des Schriftstellers erscheint.

Es geht um einen Kriegsheimkehrer, dem beim Nickerchen auf dem Bahnhof eben jenes Schuhwerk gestohlen wird. Das dann, vom Dieb weiterverkauft, auf verschlungenem Pfad bei der Frau des aus Lagerhaft Entlassenen landet, die ihm damit so ahnungslos wie freudestrahlend ein Geschenk machen möchte.

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Beeinflusst von Hemingway

Die spürbar von Ernest Hemingways US-amerikanisch schnörkellosen „short stories“ beeinflusste undatierte Erzählung bezeugt eine Zeit, in der man im zertrümmerten Deutschland kaum etwas kaufen konnte. Und in der die schweren Treter bereits mit Fug und Recht, wie der Autor Lenz es hier schlicht, aber prägnant tut, „als der Inbegriff jener Stiefel bezeichnet wurden, die einst Europa zertreten haben sollten“.

Die kleine Geschichte in ihrer doppelten Ausführung, die bei alledem ein eigensinniger Humor auszeichnet, steht im Sammelband am Anfang von weiteren 32 zuvor höchstens in Zeitungen publizierten Entdeckungen aus dem Nachlass des mit 88 Jahren am 7. Oktober 2014 in seinem Wohnort Hamburg gestorbenen Autors. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von der Literaturwissenschaftlerin Maren Ermisch.

Herausragender Kommentator von Entwicklungen

Der Hamburger Verlag Hoffmann & Campe, dem Lenz seit seinem Roman „Es waren Habichte in der Luft“ (1951) sein Autorenleben lang verbunden war, ehrt damit einen seiner Großen zu dessen 10. Todestag. Der vielfach ausgezeichnete gebürtige Ostpreuße gilt neben Kollegen wie Günter Grass („Die Blechtrommel“) und Heinrich Böll („Wo warst du, Adam?“) als herausragender Begleiter und Kommentator bundesrepublikanischer Entwicklungen. Nicht zuletzt im Hinblick auf den Umgang der Deutschen mit ihrer Nazi-Vergangenheit.

Auch praktischen Einfluss auf die Entwicklungen nahm Lenz, der noch 1944 in die NSDAP aufgenommen wurde und kurz vor Kriegsende von einem Kadettenschulschiff desertierte. Er engagierte sich für die SPD, unterstützte in den 1970er-Jahren die um Annäherung bemühte Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt.

Hellsichtiger Zeitreisender

Seine „Dringende Durchsage“ spiegelt auch einen hellsichtigen, dabei keineswegs verbissenen Zeitreisenden über mehr als sechs deutsche Jahrzehnte. So erlebt man „Bei Godickes und Gieses, Adamikstraße 15“ (1955 in „Die Welt“) Bewusstseinslagen und erste Aufbauleistungen der Kriegsverlierer – „es war die gespenstische Stunde Null, der ungeheure Augenblick, in dem Ende und Anfang identisch sind.“ Und: „Das Alte war vergessen; das Neue, das hereinbrechen sollte, unbekannt.“

Die „Bruderschaft der Erpresser“ (1952) handelt von jenen, die einst an der Ostfront als Herrenmenschen gewütet haben – und nach 1945 einander damit erpressen. „Ich wollte dich an die Zeit erinnern, da du alles tun konntest, ohne einen Menschen danach fragen zu müssen. In der Ukraine – na, erinnerst du dich? Damals warst du der Gott vom Koristawka!“, lässt der Autor einen der Davongekommenen seinem Gegenüber drohen.

Über die Witwe eines getöteten Widerstandskämpfers

Der Text „Dringende Durchsage“ erzählt wiederum von der Witwe eines getöteten Widerstandskämpfers, die für eine Hamburger Wochenzeitung ihre Memoiren schreiben will – mit furios grotesken Folgen. Als saftige Satire auf die Wirtschaftswunder-Mentalität kommt sodann „Das Wochenende des Herrn Schmelz. Bundesrepublikanisches Alltagsleben“ (1956 in „Die Welt“) daher. Lenz schildert darin das Treiben einer Bettenfabrikantenfamilie: Mutter und Tochter gestalten ihr Luxusleben nach den Vorgaben des US-Magazins „Harper’s“, während der Vater rackert und gnadenlos mit dem Pfennig fuchst.

Verschenkt an Frau und Freunde

Eine besondere Position im Buch nehmen Erzählungen ein, die der Schriftsteller an Freunde und an seine zweite Ehefrau verschenkte. „Wie Radikalität entsteht“ (1989) erhielt etwa der einstige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) von ihm zum 70. Geburtstag. Die präzise aufgelistete, gleichwohl ironisch getönte Analyse des letztlich menschenverachtenden Prinzips stellt Lenz interessanterweise nicht an RAF-, sondern an leidenschaftlichen und von sich selbst überzeugten Umwelt-Aktivisten dar.

Zwischen Realismus und Experimentellem

Stilistisch bewegt sich der journalistisch ausgebildete Autor zwischen Realismus und Experimentellem. Auch den Aspekt der Verkäuflichkeit etwa an Zeitungen hatte der junge Lenz zu bedenken. So bezieht sich eine Erzählungsgruppe auf das nicht immer gerechte Zusammenleben von Mensch und Tier. Der Held Riemke sieht sich eines Tages – surreal und kafkaesk – in ein Pferd verwandelt und vor einen Wagen gespannt („An der Deichsel“, 1957). Eine Katze erhebt Anspruch auf ein Geburtstagsgeschenk („Die Sache mit dem Räucheraal“, 1956 im „Sonntagsblatt“) – und der Wellensittich, der seit sechs Jahren die Wohnung mit dem Ich-Erzähler teilt, zumindest auf einen Glückwunsch zum Ehrentag („Tiere haben guten Leumund“, undatiert).

Feinsinniger Humanist

Wie sehr mochte der feinsinnige Humanist geglaubt haben, mit Literatur auf seine Leserschaft einwirken zu können? Dazu erklärte der 83-jährige Lenz 2009 auf dem Podium des Hamburger Ernst Deutsch Theaters anlässlich einer szenischen Lesung seines Werks „Die Versuchsperson“, so etwas geschehe eher „unmerklich, auf Taubenfüßen, still“. Und resümierte: „Man verändert sich dadurch nicht radikal, aber bekommt eine neue Sehweise auf die Realität, neue Bewertungsmaßstäbe.“ Am Ende jedoch war es für Lenz „Politik und Diplomatie überlassen, zu handfesten Resultaten zu kommen“. Darauf zu hoffen bleibt auch 2024 – angesichts neuer Kriege, die sich abermals zum Weltenbrand ausweiten könnten.

Siegfried Lenz: Sammelband „Dringende Durchsage“, Verlag Hoffmann & Campe, 25 Euro