Das Genie im Marmeladeglas

Franzobels neuer Roman „Einsteins Hirn“ durchpflügt die US-Popkultur

Hoffentlich muss das Universum nicht zum Friseur! Am 2. Februar (19.30) liest Franzobel im Linzer Stifterhaus.
Hoffentlich muss das Universum nicht zum Friseur! Am 2. Februar (19.30) liest Franzobel im Linzer Stifterhaus. © APA/Keystone/Anex

„Was ist das Leben? Ein mühevolles, von Bitterkeit durchsetztes Dahinschleppen von einer Fata Morgana zur nächsten — und am Ende weiß man nicht, wer und was man ist.“ — So müde, so abgebrüht lesen sich die Betrachtungen gegen Ende von Franzobels literarischer Biografie von Thomas Stoltz Harvey.

Im Jahr 1955 ist Harvey ein junger Mann, verheiratet, mehr zufällig ins heiter-morbide Gewerbe der Pathologie geschlittert. Harveys beschauliches Dasein gerät aus den Fugen, als der Leichnam von „Wissenschaftsgott“ Albert Einstein zur Autopsie ansteht. Das liest sich hochamüsant: „Jeder, der schon einmal einen Fisch ausgenommen hat, kann sich vorstellen, was da los war. Alles voll aufgeschäumten Blutes, als wäre der Tote von einem riesigen Barmixer durchgeschüttelt worden.“

Harvey dringt zum Zentralorgan, zu Einsteins Hirn vor: Er hob es „vorsichtig wie eine Hebamme ein Frischgeborenes heraus. Es war glitschig, umsponnen von einem feinen, gazeartigen Netz an Äderchen. Er legte es auf die Waage: 2,711 Pfund.“

Der 18. April 1955, Todestag von Einstein, aus dem Autoradio heult ein junger Sänger den „Blue Moon“ an (öde Erbsenzählerei des Rezensenten: Der Song erschien erst 1956). Den Namen des Sängers wird man sich merken müssen: Elvis Presley. Spuren einer schier explodierenden Popkultur, deren Teil längst auch das Bild ist, auf dem Einstein aufdringlichen Journalisten die Zunge zeigt.

Franzobel, 1967 als Franz Stefan Griebl in Vöcklabruck geborener Autor, führt im neuen Roman „Einsteins Hirn“ durch turbulente Jahre der US-Historie. Wirtschaftliche Depression ab 1928, der Vater ein streng gläubiger Mann und ergo regelmäßig den Sohn prügelnd. Der Krieg in Europa, Harvey erkrankt an Tuberkulose und entkommt so der Einberufung. Er schneidet Einstein auf und lässt dessen Gehirn mitgehen. So weit der reale Hintergrund, den Franzobel mit einer grotesken Idee durchwirkt: Einsteins Gehirn beginnt zu sprechen.

JFK bis Bernhard (!)

Das Hirn, majestätisch in einer Flüssigkeit in einem Marmeladenglas schwebend, wird zum Begleiter, auch zur Obsession Harveys. Der Reihe nach gehen seine Ehen — „Kauf dir einen Hund, aber Einstein kommt mir nicht ins Haus!“ — flöten. Harvey verwahrlost zusehends, taumelt durch Wendezeiten der US-Historie. McCarthy und antikommunistische Hexenjagd, John F. Kennedy und Marilyn, sexuelle Revolution und Emanzipation der Afroamerikaner (zum Zerkugeln die Szene, als Harvey mit einer surrealen Rede zum Helden einer Schwarzen-Demo wird!). Popstars der literarischen Zunft geben sich die Ehre, Charles Bukowski, William S. Burroughs oder skurrilerweise ein „rotohriger Schriftsteller“, unverkennbar Thomas Bernhard.

Riesige Fabulierlust des Sprachkünstlers Franzobel, doch bei allem Sprachwitz ist „Einsteins Hirn“ auch zärtliches Porträt seines freundlichen, unscheinbaren Protagonisten Harvey. Manchmal überschlagen sich, historisch bedingt, die Ereignisse. Woodstock und Mondlandung und Charles Manson, dem Leser mag Billy Joels Hit „We Didn´t Start the Fire“

durch den Kopf schwirren. Flankiert von Einstein ein Nachdenken über Universum, Sein und Nichts: „Vielleicht ist unser Universum so klein wie das Atom eines Haares und muss sich fürchten, dass sein Besitzer zum Friseur geht.“ (Dies, so ganz nebenbei, auch köstliche Hommage an Carl „Unser Kosmos“ Sagan!) Entdeckt Einstein post mortem die Weltformel? Gibt es Rettung vor menschlicher Dummheit? Wozu leben? Ein verdammt schlaues, kurzweiliges Lesevergnügen, man möchte das Buch innert ein paar Nächten „fressen“.

Franzobel: „Einsteins Hirn“. Zsolnay, 544 Seiten, 28,80 Euro

Von Christian Pichler

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