„Das Grausamste, das wir gesehen haben, zeigen wir gar nicht“

Ein Gespräch über die Kamera an der Front, die Möglichkeit von Normalität im Krieg und die Fragilität von Frieden

Yevhen Titarenko und Vitaly Mansky beim Filmfestival Crossing Europe in Linz
Yevhen Titarenko und Vitaly Mansky beim Filmfestival Crossing Europe in Linz © subtext.at/Christoph Leeb

Die aus der Ukraine stammenden Filmemacher Vitaly Mansky (59) und Yevhen Titarenko (34) legen mit dem Dokumentarfilm „Eastern Front“ ein intensiven Zeugnis unserer Zeit ab. Titarenko schloss sich einem ukrainischen Sanitätsbataillon an, ist seit Februar 2022 im Dauereinsatz an der Front und filmt das grausame Geschehen, die Soldaten sprechen vom Inferno, von der Hölle.

Mansky, der seit der Annexion der Krim 2014 in Riga lebt, zeigt den Alltag im Hinterland, der trotz der Omnipräsenz des Krieges, weitergeht. Das VOLKSBLATT sprach mit den Filmemachern, die zur Österreich-Premiere des Films bei Crossing Europe in Linz waren.

VOLKSBLATT: Wie hat sich durch den Angriff Russlands ihr Leben verändert?

VITALY MANSKY: Russland hat die Ukraine 2014 überfallen, und bereits das hat zu einer großen Veränderung in meinem Leben geführt. Ich habe alles zurückgelassen. Erstens musste ich mich von einem Land trennen, das ich bis dahin meine Heimat genannt habe, alle Verbindungen zu diesem Land kappen. Dann kommt auch noch das Materielle ins Spiel, das ich zurückgelassen habe. In meinem Alter ist es nicht einfach, von Null an zu beginnen.

YEVHEN TITARENKO: Vor 2014 hatte ich ein Unternehmen auf der Krim, alleine das hat zu einer riesigen Veränderung geführt, weil diese Zone plötzlich nicht mehr zur Ukraine gehörte. Dann habe ich im Laufe der Zeit begriffen, wie fragil auch der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft ist. Es war ziemlich abstrakt für mich, das so wahrzunehmen. Seitdem hat mich der Krieg nicht mehr losgelassen.

Wann kam die Entscheidung, einen Film zu drehen?

TITARENKO: Gleich mit den ersten Bomben wurde die Idee für diesen Film geboren. Jeder hatte seinen eigenen Weg, aber Vitaly und ich haben uns gefunden und dann beschlossen, diesen Film zu machen.

Sie zeigen sehr intime Momente innerhalb der Familien, aber auch die grausame Härte eines Krieges. War es von Anfang an klar, alles zu zeigen?

MANSKY: Das Grausamste, das wir gesehen haben, zeigen wir gar nicht in unserem Film. Es ist in der Realität noch viel schlimmer. Das Ziel des Films war nicht, die Horrorerlebnisse des Kriegs zur Schau zu stellen, so dass sich Zuschauer an solchen Szenen ergötzen können, sondern eine konkrete Geschichte zu erzählen. Diese konkrete Geschichte beschäftigt sich mit den Heldinnen und Helden, die sich dort um die Soldaten kümmern und zeigt auch eine andere Seite des Krieges. Wir wollten einen Film drehen, der es den Menschen nicht erlaubt, sich an diesen Krieg zu gewöhnen.

Man sieht immer wieder Szenen abseits der Front. Wie schaffen Sie so eine Normalität mit Familie und Freunden, wenn vielleicht gerade noch an der Front ein junger Mann in Ihren Armen gestorben ist?

TITARENKO: Wenn Sie sich vorstellen, wie Ärzte jeden Tag arbeiten — das ist deren Job. Da gibt es gute und schlechte Tage, wie bei jedem anderen Job. Nur, dass ein schlechter Tag auch den Tod anderer Menschen beinhalten kann. Wenn es dazukommt, führt es auch dazu, dass man das eigene Leben umso intensiver empfindet und anders wertschätzt. Wenn mir das passiert, dass ein Mensch in meinen Armen stirbt, dann versuche ich, nicht zu weinen, nicht zu sehr zu bedauern, sondern mich viel mehr beim Universum dafür zu bedanken, dass ich diesem Menschen überhaupt begegnen konnte, die Chance hatte, ihn kennenzulernen.

An wen richtet sich der Film?

MANSKY: In erster Linie an ein westliches Publikum, aber natürlich nicht nur als „westlich“ begriffen, sondern als Weltpublikum. Für die Menschen in der Ukraine besteht die Möglichkeit gar nicht, dass sie diesen Krieg auch nur eine Minute ausblenden können. Jeder ist davon betroffen, hat einen Sohn, einen Vater, eine Frau, ein Kind verloren. Wenn ich davon spreche, dass ich das Publikum wachrütteln will, dann bezieht sich das auch auf alle, die nicht involviert sind in den Krieg. Auch meine Verwandten im ukrainischen Hinterland, auf die keine Bomben fallen, auch sie haben Kinder in den Krieg geschickt und müssen tagtäglich mit dem Gedanken aufwachen, dass sie sterben könnten. Wenn Sie mich fragen, was die Ukrainer beim Sehen des Films empfinden, würde ich kurz antworten: Stolz auf die Soldatinnen und Soldaten, aber auch eine innere Ruhe und das Selbstbewusstsein, dass das ihr Schicksal ist.

Sie haben eine klare Botschaft mit Ihrem Film. Was erwarten Sie vom Westen?

MANSKY: Ich bin der Meinung, dass die Ukraine eigentlich jeden Tag ziemlich klar kommuniziert, was sie vom Westen erwartet. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Yevhen, Sie waren bei der Berlinale, sind jetzt hier in Linz …

TITARENKO: Ich kriege für jedes Festival tatsächlich eine Erlaubnis, das Land bzw. die Front zu verlassen. Das heißt, sobald das Festival hier zu Ende ist, werde ich auch in die Ukraine zurückkehren.

MANSKY: Ich möchte noch ergänzen — und ich weiß nicht, warum er das ausgelassen hat — aber, als wir im Zug hierhergefahren sind, hat er mir erzählt, dass es ihn sehr belaste, dass die Gegenoffensive jetzt beginnen könnte, während er nicht da ist, also ohne ihn. Und dass ihm da auch die Möglichkeit genommen wird, sich seinen Kameraden wieder anzuschließen. Und in der Hinsicht bin ich wirklich neidisch auf Yevhen, denn er hat nicht nur die Möglichkeit, mit der Kamera sein Land zu verteidigen, sondern auch mit der Waffe. Das ist, glaube ich, sein Stolz und auch ein Privileg, beides machen zu können.

Wie unwirklich kommt Ihnen hier eigentlich das Leben vor, wenn Sie mit dem Kopf bei Ihren Kameraden an der Front sind?

TITARENKO: Auf der Berlinale habe ich mit Vitaly über unsere Erfahrungen im Westen und in der Ukraine geredet. In den Städten hier in der EU zu sein, in denen Frieden herrscht, ist extrem schön. Aber durch meine Erfahrungen in der Ukraine ist mir noch einmal klar geworden, wie fragil das alles ist. Wenn ich mich hier befinde, verstärkt das das Gefühl, dass das jederzeit kippen könnte.

MANSKY: Tatsächlich ist es so, dass der Frieden hier nur bestehen kann, weil Menschen in der Ukraine mit der Waffe in der Hand ihn verteidigen.

Vitaly, Sie haben mir in einem Interview 2017 erzählt, dass es damals noch das Minimum an Freiheit in der Ukraine gab, die Kampfzone zu verlassen. Jetzt gibt es die — jedenfalls für Männer — nicht mehr. Ist die Ukraine ein unfreies Land?

MANSKY: Dass das Gespräch von damals diese Wendung nehmen würde, das habe ich nicht erwartet. Gewisse Grundrechte sind derzeit in der Ukraine pausiert, das betrifft das Wahlsystem, auch das Recht von Männern, das Land zu verlassen, aber ich würde trotzdem die Ukraine nicht zu den unfreien Staaten zählen. Das impliziert für mich etwas ganz anderes, denn diese Situation ist das Resultat eines Zwangs aufgrund des kriminellen und grausamen Aggressionskrieges, den eine Atommacht gegen die Ukraine führt. Ich bin auch vollkommen überzeugt, dass nach dem Ende dieses Krieges — denn dieses Ende wird kommen — die Ukraine sofort einen Weg zurück zur Demokratie einschlagen wird. Während ich das für die Russische Föderation nur mit dem Ende des jetzigen Regimes in Verbindung bringen könnte. Wir wissen aber beide, dass das eine sehr komplexe Frage ist.

Sie haben vor vielen Jahren einen Film über Putin gemacht. Haben Sie die Angriffe auf die Ukraine überrascht?

MANSKY: Ja, in der Tat war ich sehr überrascht. Ich glaube niemandem, der sagt, dass das erwartbar war, denn ich kenne keine Person, die nicht bis zur letzten Sekunde gedacht hat, dass ein Krieg eigentlich aus dem vorigen Jahrhundert ist und nicht jetzt im 21. Jahrhundert so mitten in Europa stattfinden kann.

2017 habe ich Sie gefragt, wo Sie die Ukraine in fünf Jahren sehen. Ich frage Sie heute erneut: Wo sehen Sie die Ukraine in fünf Jahren?

MANSKY: Ja, erneut kann ich sagen, es wird eine schwierige, eine komplexe Situation sein in fünf Jahren. Ich habe Ihnen damals gesagt, im Zustand des Werdens. In fünf Jahren wird es im Zustand der Weiterentwicklung, des Wiederaufbaus sein. Ich möchte auch betonen, dass wir alle die Ukraine als Land nicht idealisieren, wir halten sie auch nicht für das Paradies auf Erden. Ein Teil dieses Rekons-truktionsprozesses wird auch darin bestehen, dass wir ihn alle gemeinsam mit vorantreiben und das Land wieder aufbauen.

Yevhen, Sie gehen jetzt zurück an die Front, werden Sie dort weiter drehen?

TITARENKO: Ich werde weiterhin an allen Geschehnissen teilnehmen und aktiv an der Front kämpfen und ja, wahrscheinlich werde ich auch weiter drehen.

Mit VITALY MANSKY und YEVHEN TITARENKO sprach Mariella Moshammer

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