„Deckel drauf“ funktioniert nicht

„denken. leben. schreiben“: Autor Martin Pollack im Linzer Stifterhaus

Dauerhafter Frieden in Osteuropa nur, wenn die Wunden ehrlich zur Sprache kommen: Diskutanten Kerbler, Pollack
Dauerhafter Frieden in Osteuropa nur, wenn die Wunden ehrlich zur Sprache kommen: Diskutanten Kerbler, Pollack © Stifterhaus

In Stegersbach, einer burgenländischen Gemeinde, habe Martin Pollack nach einer Gedenktafel für von den Nazis ermordete Roma gefragt. Der Bürgermeister, „ein junger smarter Mann mit Dreitagesbart“, habe sein Ansinnen verneint: „Das müssen die Betroffenen fordern.“ Pollack entgegnete, die Betroffenen seien ermordet worden. Der Bürgermeister sagte, von dieser Warte habe er das noch nicht betrachtet.

Martin Pollack, 1944 in Bad Hall geborener Schriftsteller, schreibt über Erinnerung. „Namen, Gesichter dem Vergessen entreißen“, sagt er. „Das klingt pathetisch, aber es ist wichtig.“ Wichtig für die Opfer, wichtig für die Lebenden. Ausgangsmaterial ist meistens die eigene Biografie, die eigene Familie. „Nicht, weil ich glaube, dass meine Familie so spannend ist. Es war eine österreichische Familie, alle bis zum Ende bekennende Nazis.“

Familiär verstrickt

Bis heute stelle sich Pollack „die zentrale Frage“: Wie konnte es passieren, dass seine Familie derart in den Nationalsozialismus verstrickt war? „Nicht bloß Mitläufer, sondern sie haben gehandelt. Mein Vater war Chef der Linzer Gestapo!“ Über SS-Sturmführer Gerhard Bast, seinen leiblichen Vater, schrieb Pollack sein bekanntestes Buch, „Der Tote im Bunker“ (2004).

Am Dienstag sprach Pollack als erster Gast der neuen Reihe „denken. leben. schreiben“ im bummvollen Linzer Stifterhaus. Fragensteller war Michael Kerbler, u. a. zwischen 2003 und 2013 Leiter der Ö1-Sendereihe „Im Gespräch“. Pollack, in Wien und im Südburgenland lebend, vielfach ausgezeichnet (2011 Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung,

2015 Kulturpreis des Landes OÖ für Literatur) begann mit Reportagen, schrieb für den deutschen „Spiegel“. So lange, bis die Geschichten „zu groß wurden“, das Format Buch „angemessen“ schien.

Pollack in seinem Werk stets ein Suchender, ein Wühlender: „Reportage ist immer Stückwerk, ein Ausschnitt. Das wissen wir.“ Ausführliche Recherche geschieht vor dem Schreiben, einige Jahre arbeitete Pollack auch mit seinem Freund, dem Schriftsteller Christoph Ransmayr, zusammen: „Ich bin ziemlich pingelig, aber der Christoph schlägt mich bei weitem.“

„Kontaminierte Orte“, so der Titel von Pollacks 2014 erschienenem Buch, ist heute ein geflügeltes Wort. Von Blut getränkte Orte, oft idyllische Landschaften an der Oberfläche. Pollack erforschte österreichische und (ost)europäische Landschaften. Warum dieses jahrelange, unermüdliche Wühlen? Pollack erinnert exemplarisch an die Jugoslawien-Kriege ab 1991: „Wir wissen, was der Grund war. Tito (langjähriger jugoslawischer Staatschef, Anm.) hat den Deckel draufgehalten, Konflikte wurden tabuisiert. Aber das funktioniert nicht.“

Unaufgearbeitetes, das seine Konfliktlinien bis in die Gegenwart zieht: Pollack, bekannt auch für hervorragende Übersetzungen polnischer Literatur, nennt Grausamkeiten, die Polen und Ukrainer einander angetan hätten. Und er spricht vom Holodomor (=Tötung durch Hunger), einer sehr wahrscheinlich gezielt von Stalin ausgelösten Hungersnot, die 1932/33 Millionen Ukrainern das Leben kostete. Dauerhafter Frieden zwischen Russland und der Ukraine, so Pollack, nur möglich, wenn auch dieser Massenmord zur Sprache käme: „Das muss auf dem Tisch liegen, darüber muss man sprechen, darüber müssen Bücher geschrieben werden.“

Bloodlands, blutige Landstriche, Kerbler fragt sinnvoll nach: Und der Humor? „Ich bin ein Mensch, der gerne lacht“, sagt Pollack. Bei Lesungen schlage er nicht ein Buch auf „und schaue strafend in den Saal“. Pläne? Seine Krebserkrankung hat Pollack öffentlich gemacht: „Ich bin guten Mutes. Aber der große Atem fehlt mir. Ich weiß nicht, ob der wiederkommt.“

Von Christian Pichler

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