Aus einem Buch einen Film zu machen, ist kein leichtes Unterfangen. Es muss gekürzt, umgedichtet und angepasst werden – immer mit der Gefahr, Fans der Vorlage zu erzürnen. Und aus einem Buch über Bücher einen Film zu machen – das ist vielleicht noch schwieriger. Bei „Der Buchspazierer“ wird es dennoch probiert. Der Film basiert auf einem deutschen Bestseller. In der Hauptrolle ist Christoph Maria Herbst („Stromberg“) zu sehen.
Herbst spielt darin einen ziemlich kontaktscheuen und knorrigen alten Mann, der, so könnte man es auch nennen, einen Lieferdienst betreibt. Allerdings zu Fuß – und in seinem Rucksack hat er keine Warmhaltebox mit Essen, sondern viele Bücher.
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Seine Familie sind seine Bücher
Carl Kollhoff, so heißt die Figur, beliefert Stammkunden eines Buchladens mit gedruckter Ware. Irgendwann begegnet ihm das junge Mädchen Schascha (Yuna Bennett), das von dieser Tätigkeit fasziniert ist. Sie nennt ihn „Buchspazierer“ und begleitet ihn – was der Eigenbrötler, der sich in seiner Einsamkeit eingerichtet hat, gar nicht gut findet. Seine Familie sind seine Bücher. Bald zeigt sich aber, dass den alten Mann und das junge Mädchen mehr Schicksal verbindet, als man denkt – ohne zu viel zu verraten.
Der zugehörige Roman stammt von Carsten Henn, der auch als Weinjournalist und Restaurantkritiker arbeitet. Das Buch erschien im November 2020 und wurde ein Bestseller. Henn traf mit der Erzählung offenbar einen Nerv: Einsamkeit, Abkapselung, aber auch Zusammenhalt und Realitätsflucht in literarische Welten – das waren große Themen in der Coronazeit.
Märchen, Komödie oder Drama?
2024 haben die allermeisten Menschen Corona verdrängt. Dennoch funktioniert die Erzählung auf der Leinwand ausgezeichnet. Dem bisher eher Kennern bekannte Regisseur Ngo The Chau gelingt es, eine unverbrauchte Filmformel zu finden, die es auch schwer macht „Der Buchspazierer“ cineastisch einzuordnen. Mal wirkt er wie ein Märchen (der Regisseur hat auch Erfahrung in diesem Fach), mal wie eine Komödie, mal wie ein Drama. Es geht um Kindhaftes, ist aber auch kein Kinderfilm. Mitunter zeigt Ngo The Chau kompromissloses Tränenziehermaterial, wie man so sagt.
Herbst spielt Kollhoff als einen Mann, dessen Welt zerbröselt. Stoisch merkt er, wie sein alter Buchladen von einer seelenlosen Kette übernommen wird. Segway-Fahrer düsen vorbei, ein Fanal der neuen Zeit. Kollhoff aber klammert sich an seine Literatur. Die Aufgabe, als 58-Jähriger einen Mann zu spielen, der über 70 ist, nimmt er dabei genussvoll an. Gang, Habitus, Altersflecken – alles stimmt. Dadurch vergisst man auch schnell jeden Gedanken an das Büroekel Stromberg aus der gleichnamigen Comedyserie – Herbsts Rolle des Lebens, die sich bei vielen so eingebrannt hat, dass sie Fluch und Segen zugleich ist.
Der Schauspieler hatte den Roman einst selbst gelesen. „Lustigerweise dachte ich damals: Ach, endlich mal wieder ein Buch, bei dem der deutsche Film nicht Gefahr läuft, es verfilmen zu wollen“, erzählt er der dpa. Er habe es schlicht für unverfilmbar gehalten. Nun sei er aber eines Besseren belehrt worden.
Literarische Querverweise und Metaebenen
Der Film ist gespickt mit unzähligen literarischen Querverweisen und Metaebenen, die man als Büchernerd aufsammeln kann, aber nicht muss. Seien es die Spitznamen von Kollhoffs Kunden („Frau Langstrumpf“, „Effie Briest“, „Mr. Darcy“), die ihre Abgründe bereits andeuten. Seien es die Figurenkonstellation, etwa zwischen dem verschlossenen alten Mann und dem jungen Mädchen, das ihn mit seiner urwüchsigen Lebensfreude nach und nach erweicht. Wer das gut findet, sollte mal „Heidi“ von Johanna Spyri lesen. „Es ist ein Märchen, das wir ein bisschen entmärchent haben, wenn es dieses Wort gibt“, sagt Hauptdarsteller Herbst. „Was aber geblieben ist, ist die Poesie.“
Zwischendurch fragt man sich allerdings, wie es sein kann, dass die Stadt im Film irgendwie entrückt wirkt. Wie eine Parallelwelt, die minimal anders funktioniert. Bis man es bemerkt: Es sind fast keine Autos zu sehen, die durch das Bild fahren. Ein gelungener Film-Kniff. Und womöglich ein Thema für ein ganz anderes Märchen.