Wie viel Metaebene kann man in einen Theaterabend packen, um selbst die Satire auf die Satire zu untergraben? Geht es nach Neo-Burgtheaterdirektor Stefan Bachmann und dem Autorenduo Barbara Sommer und Plinio Bachmann, kann es in deren Überschreibung von Molières „Der eingebildete Kranke“, das nun von Köln nach Wien übernommen wurde, kein „zu viel“ geben. Das Motto dieses 110-minütigen Abends, der am Freitag im Akademietheater Premiere feierte, lautet wohl: „Eine geht noch!“
Man setze die Figuren in einen „Kreisel der Überempfindlichkeiten des 21. Jahrhunderts“, ist in dem in der jungen Ära Bachmann gewohnt schlank gehaltenen Programmheft zu lesen. Will heißen: dein Bereich, mein Bereich – und bitte keine Grenzüberschreitungen. In diesem Milieu hat es der kränkelnde Argan, für dessen Partie aufgrund der echten Erkrankung von Regina Fritsch zwei Tage vor der Premiere die bereits in Köln die Titelrolle spielende Rosa Enskat eingesprungen ist, nicht gerade einfach. Welche Konsistenz seine Scheiße heute wieder hat, interessiert hier eigentlich weder die Dienerin, noch den Bruder oder die eigene Ehefrau. Die haben nämlich allesamt ihre eigenen Identitätskrisen.
Lesen Sie auch
Und da wären wir schon bei Ebene Nummer eins: Crossgender-Besetzung, abgehakt. Während Enskat ihre Hosenrolle (im fleckigen Nachthemd und Allongeperücke) mit nonchalanter Geschlechtslosigkeit als Mensch darstellt, setzt Tilman Tuppy als Argans Ehefrau auf seltsam hölzerne Pseudo-Weiblichkeit. Paul Basonga gibt als Argans Tochter Angélique vor allem ein trotzig-emotionales Kind ab, das stets mit Therapiebedarf droht, während Barbara Petritsch ihren Doktor Purgon als einen letztendlich an seiner eigenen Borniertheit scheiternden Arzt gibt. Da ist es schon fast irritierend, dass Melanie Kretschmann Argans Dienstmädchen Toinette in Kleid und Haarschleife verkörpert und Justus Maier den tollpatschigen Freier.
Auch crossgender, aber eindeutig Ebene Nummer zwei zugehörig ist schließlich Lola Klamroth als Angéliques Geliebter Cléante. Im genderfluiden Kostüm und mit aufgeklebtem Spitzbart verkörpert sie den „privilegierten, heterosexuellen Cis-Mann“, der gerade deshalb mit einer gehörigen Portion Achtsamkeit ausgestattet ist und die Ergebnisse des jüngsten FLINTA*-Kongresses in St. Pölten in- und auswendig kennt. In keinem Moment will er übergriffig sein, selbst die Liebesszene muss der „5C-Regel“ – irgendwas mit Context, Consent und Choreografie – entsprechen. Und Pronomen – du meine Güte! Auf keinen Fall!
Es macht durchaus Spaß, den unterschiedlichen Metaebenen dieses Abends, der bis auf eine Chaiselongue und einen Kübel zur Entleerung von Argans Darm kaum Requisiten aufbietet (Bühne und Kostüme: Jana Findeklee und Joki Tewes), zu folgen. Die Überschreibung setzt auf die Überzeichnung aktueller Diagnosen, Befindlichkeiten und Therapiemöglichkeiten und überrascht mit dem einen oder anderen witzigen Einfall.
Apropos Witz: Ebene drei. Der Dialog zwischen Argan und seinem Bruder (Ernest Allan Hausmann) ist nicht nur ein Lehrbeispiel für Ich-Aussagen und wertschätzende Kommunikation, sondern setzt alles auf eine Karte und bricht aus dem Spiel aus! In einem herrlichen Monolog sinniert Hausmann über Romandramatisierungen, Stückentwicklungen und theatrale Stadtspaziergänge und erinnert Argan schließlich an den Stücktitel, um auf die Einbildung der Krankheit zu verweisen, woraufhin die beiden beschließen, das Stück doch noch schnell fertig zu spielen.
Die Inszenierung hält noch weitere Ebenen, Zwischenebenen und Metaebenen bereit, aber alles muss ja nicht verraten werden. Fest steht: Das barocke Kostüm täuscht hier nicht lange über den Versuch einer zeitgenössischen Interpretation der psychischen Verfasstheit der Gesellschaft hinweg. Wo die Grenze zwischen Satire und Satire-Satire liegt, muss wohl zwangsläufig jeder für sich selbst beantworten. Das Publikum sendete am Ende jedenfalls Ich-Botschaften in Form von lang anhaltendem Applaus.
(Von Sonja Harter/APA)
„Der eingebildete Kranke“ nach Molière im Akademietheater, Übernahme aus dem Schauspiel Köln. Überarbeitung von Barbara Sommer und Plinio Bachmann, Regie: Stefan Bachmann, Bühne und Kostüme: Jana Findeklee und Joki Tewes, Mit: Rosa Enskat (für die erkrankte Regina Fritsch), Paul Basonga, Lola Klamroth, Melanie Kretschmann, Barbara Petritsch, Justus Maier, Tilman Tuppy und Ernest Allan Hausmann. Weitere Termine: 18., 22., 24. September sowie 1., 11., 18. Oktober. burgtheater.at