Die Welt von gestern

„Das verlorene Paradies“ von Literatur-Nobelpreisträger Gurnah

Abdulrazak Gurnah: Das verlorene Paradies. Penguin Verlag, 336 S., 25,70 Euro
Abdulrazak Gurnah: Das verlorene Paradies. Penguin Verlag, 336 S., 25,70 Euro © AFP/Dennis, Penguin Verlag

Wenn die Zuerkennung des Literaturnobelpreises auch Chancen eröffnen soll, die eigene literarische Landkarte zu erweitern, dann ist Abdulrazak Gurnah eine hervorragende Wahl. Von dem in Sansibar geborenen und in Großbritannien lebenden Autor, der am Montag in London die Nobelpreisträger-Urkunde überreicht bekam, war zum Zeitpunkt der Bekanntgabe kein einziges Werk in deutscher Übersetzung lieferbar. Das hat sich rasch geändert. „Das verlorene Paradies“ macht nun den Anfang.

Ein Geschichtenerzähler, der den Blick weitet

„Wir verdanken dem diesjährigen Literaturnobelpreis die Neu- und Wiederentdeckung eines Autors, der uns gerade jetzt und besonders in Deutschland und Europa viel zu sagen hat“, ließ die Penguin Random House Verlagsgruppe wissen, die sich alle deutschsprachigen Rechte gesichert hat. „Zugehörigkeit und Entwurzelung, Migration und Fremdsein, manchmal Heimkehr — Abdulrazak Gurnahs Romane handeln von universalen menschlichen Erfahrungen. Nichts in seiner Literatur ist schwarz oder weiß, in bestechend klarer Sprache, in der Tradition und Schönheit des Geschichtenerzählens weitet sie den Blick, über die Kontinente und ins Herz der Menschen.“

„Paradise“ erschien 1994 im Original, bedeutete Gurnahs Durchbruch und landete auf der Shortlist des Booker Prize. Die 1998 erschienene Übersetzung von Inge Leipold ist nun wieder zu lesen und wurde mit einer „Editorischen Notiz“ versehen, die zeigt, wie sehr sich unsere Sicht auf die Darstellungsformen von Unterdrückungsgeschichte gewandelt hat: „Im Roman werden Menschen nicht selten als ,Wilde´, ,Eingeborene´ oder ,Kaffer´ bezeichnet. (…) Dem Verlag ist bewusst, dass es sich hierbei um diffamierende Begriffe handeln kann, deren Verwendung und unverfälschte Übersetzung jedoch zur Charakterisierung der Figuren und ihres Umgangs miteinander unvermeidlich sind.“

Der Roman spielt Ende des 19. Jahrhunderts in Ostafrika. Es ist eine Zeit des Umbruchs. Noch gibt es überall Völker und Stämme, die nach uralten Gesetzen und in großer Naturverbundenheit leben, doch die Europäer sind im Vormarsch. Namentlich die Deutschen, die mit großer militärischer Härte vorgehen, bringen als Kolonialherren das alte, von Klischees geprägte Gefüge des Zusammenlebens („Traue nie einem Inder! Der verkauft dir seine eigene Mutter, wenn es einen Gewinn abwirft.“) durcheinander. Die Blütezeit des Sklavenhandels ist zwar vorbei, doch zur Schuldentilgung werden Familienangehörige für sexuelle oder physische Ausbeutung verkauft. So geht es dem am Land lebenden zwölfjährigen Yusuf, dem sein Vater eines Tages eröffnet, er müsse den reichen „Onkel“ Aziz begleiten. Erst viel später dämmert ihm, dass er vom hoch verschuldeten Vater wohl als Leibeigener verschachert wurde.

Aziz ist ein reicher Kaufmann, und mit ihm kommt der hübsche, naive Bub, der immer wieder sexuelle Avancen abwehren muss, mit der großen weiten Welt in Berührung. Gurnah zieht alle Register, um die Buntheit der damaligen Welt vor unseren Augen erstehen zu lassen.

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Wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht muten die von Musikanten angeführten Karawanenreisen an, die Aziz ins Landesinnere unternimmt, um Handel zu treiben. Die Gefahren sind so groß wie die Gewinnmöglichkeiten und reichen über despotische Sultane, brutale Räuber bis zu wilden Tieren und tödlichen Krankheiten. Für Yusuf gibt es eine zusätzliche: Er ist ein auffallend schöner Jüngling geworden, begehrt als Bräutigam, Bettgenosse, Glücksbringer oder Geisel. „Das verlorene Paradies“ beschreibt in bildhafter, eindrücklicher Sprache eine Welt von gestern, in der die Lebensumstände keineswegs paradiesisch waren. Willkommen im erzählerischen Kosmos des neuen Nobelpreisträgers! W. Huber-Lang

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