„Euer Nichtstun tötet Menschen!“

Premiere einer schmerzhaft aktuellen „Antigone“ im Linzer Theater Phönix

Die Macht zerbröselt von innen, die Familie des Kreon: Marius Zernatto, Gulshan Bano Sheikh, Martin Brunnemann
Die Macht zerbröselt von innen, die Familie des Kreon: Marius Zernatto, Gulshan Bano Sheikh, Martin Brunnemann © Andreas Kurz

In St. Petersburg, vormals Leningrad, Heimat Wladimir Putins, forderte ein Bezirksrat im September die Absetzung des russischen Präsidenten wegen Hochverrats. Ein sehr, sehr mutiger Akt.

Widerstand gegen den Tyrannen ist auch das zentrale Thema des bis heute meistgespielten Theaterstücks der Antike. Krieg in Theben, zu Beginn von Sophokles´ „Antigone“ schlagen sich zwei Brüder tot. Einer wird ehrenvoll bestattet, den Leichnam des anderen, Feind des „Vaterlandes“, sollen die Hunde fressen. Antigone widersetzt sich dem Befehl ihres Onkels und neuen Herrschers Kreon. Sie bestattet ihren Bruder Polyneikos (Chili Tomasson, von ihm auch Live-Musik an der E-Gitarre) ordentlich.

Katja Ladynskaya, 1994 in St. Petersburg geboren, zog 2011 nach Deutschland. Im März dieses Jahres gründete Ladynskaya eine russisch-ukrainische Friedensbewegung. Für das Linzer Theater Phönix reicherte Ladynskaya den Antigone-Stoff mit eigenen Texten an und inszeniert auch selbst. Diese Fassung ist konkret auf den russischen Diktator (und jene, die an seinen Lippen hängen) gemünzt. Ein gerechter Tritt in die Magengrube des Zuschauers. Er oder sie ist gezwungen, sich eine Meinung zu bilden. Und zu fühlen.

Premiere von „Antigone“ war Donnerstagabend im Phönix. Kampf der Brüder, zwei Schüsse, Kreon der Täter. Der Mann geht über Leichen, das Gemetzel stärkt nur seine Macht. Das Volk braucht Helden, das Volk braucht Feinde. Antigone, die Gesetzesbrecherin, muss sterben. Das Gesetz befiehlt es, der Tyrann präsentiert sich als Hüter des Gesetzes.

Angst & Propaganda

Düstere, karge Bühne (Gabriela Neubauer), die Stadtmauern nach Artilleriefeuer ein Trümmerhaufen und rasch umgebaut zu Podesten. Eine willige TV-Moderatorin verkündet „Breaking News“: „Unsere Stadt ist gerettet!“ Die Propagandamaschine der Tyrannen läuft seit 2500 Jahren. Martin Brunnemann als Kreon ein bisweilen smarter Diktator (fehlte noch: „guter Diktator“), der Angst als wichtigstes Machtmittel einsetzt und den selbst Angst peinigt. Jeder könnte ein Verräter sein, auch sein Sohn Haimon (Marius Zernatto).

Ismene (Gina Christof), Schwester der Antigone, beschmiert Wände: STOPPT KREON. Sie bellt das Publikum an: „Euer Nichtstun tötet Menschen!“Aber auch Ismene zu lange eine Nutznießerin des Systems? Die Schande ermordeter Kinder ist untilgbar. Lange schwieg das Volk, nach Antigones Heldentat beginnt es zu murmeln. Zu spät? Hat sich das Volk zu lange (weg-)geduckt?

Immer brav nicken

Der Zuschauer verstört, zerquetscht: Wer begehrt auf, wer hat den Mut? Fragen, zumal gestellt in einem heute behaglichen Land, das selbst reichlich Tradition im Abnicken von Tyrannei hat. Regisseurin Ladynskaya scheint klar in ihrer Aussage, Antigone verwirft den Gedanken an eine Flucht. Die Pein am eigenen Leibe verdient: „Wir waren zu lange leise.“

Das Phönix-Ensemble zum Auftakt der Saison mit Ausnahme „Kreon“ Brunnemanns neu, einzelne Schauspieler können in diesem Labor des Schreckens nur bedingt aus dem Kollektiv heraustreten. Gulshan Bano Sheikh gefällt als Kreons Gattin Eurydice, Mirkan Öncel rüttelt als Teiresias vergeblich am untergangsgeilen Kreon. Unendlich verlassen sind am Ende Antigone (Lara Sienczak) und Haimon im Kerker: Wir haben verloren.

Diese „Antigone“ tut weh. Die Mühsal der Selbstbefragung ein Lüftchen nur angesichts realen Grauens von Tyrannei und Krieg. 80 Minuten heftiges und, jawohl: politisches Theater. Zu Recht mit langem Beifall bedacht.

Von Christian Pichler

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