Ob katholische Kinder darunter seien, fragt Dompfarrer Toni Faber, als die Volksschulklasse den Wiener Stephansdom besucht. Lehrerin Ilkay Idiskut verneint, die meisten sind Muslime, ein paar Orthodoxe sind darunter. Drei Jahre lang hat Ruth Beckermann in der Klasse den Film „Favoriten“ gedreht, der nach der Berlinale-Weltpremiere jetzt ins Kino kommt.
Kein Kind hat Deutsch als Muttersprache
Der Bezirk Favoriten gilt in Teilen mitunter als Wiener Hotspot. Der Migrantenanteil ist hoch. Hier, in der Bernhardtstalgasse, liegt die größte Volksschule der Bundeshauptstadt. Diese Schule hat sich die heimische Dokumentarfilmdoyenne Ruth Beckermann („Mutzenbacher“) nach Idee und Konzept von Elisabeth Menasse als Drehort ausgesucht. Keines der 25 Kinder hat Deutsch als Muttersprache.
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Sie kommen aus Bulgarien, Syrien, Mazedonien, Tunesien oder Tschetschenien und bringen das von daheim übernommene Kulturverständnis mit. Der Vater entscheidet über die Kleidung der Mutter, erzählt ein Kind. Ein Bub findet es in Ordnung, gegen andere gewalttätig zu sein und lächelt dabei unschuldig.
Bei der Selbstvorstellung wird viel vom sozialen Hintergrund sichtbar: Die Väter arbeiten auf der Baustelle, malen Zebrastreifen oder sind Kundenberater von Telefonanbietern. Eine Mutter war in Syrien Lehrerin, hier ist sie Verkäuferin.
Die beim Dreh 32-jährige Lehrerin Idiskut hat selbst türkische Wurzeln und geht behutsam und mit großer Geduld mit ihren Schützlingen um. Spielerisch wird gelernt, Konflikte werden vor allen anderen besprochen, Entschuldigungen angeregt.
Im Kollektiv spielt die Herkunft keine Rolle
Im Kollektiv spielt die Herkunft aber keine Rolle. Die Fröhlichkeit der Kinder vermittelt deren Geborgenheit in der Klassengemeinschaft und prägt den Grundton des Films. Zuerst ist das Bemühen, sich deutsch zu artikulieren, den Kleinen ins Gesicht geschrieben, später mühen sie sich mit Rechenaufgaben und Präsentationen ab. Berührend ist der Eifer mancher Kinder oder die herbe Enttäuschung, wenn die Note nicht den Erwartungen entspricht.
Sie gehen zum Schwimmunterricht oder besuchen mit der streng verschleierten Religionslehrerin eine Moschee. Wenn sie gemeinsam arabisch tanzen, erstaunt die schon frühe Körperbetontheit selbst der Buben.
Immer mehr wird deutlich, mit welch unterschiedlichem kulturellen und religiösen Hintergrund die Kinder vor ihrer Lehrerin sitzen. Doch die geht mit großer Natürlichkeit und Ungezwungenheit an heikle Themen und bespricht mit ihnen sachlich Sexualität ebenso wie den Ukrainekrieg.
Ein Film, der ins Herz trifft
Im Verlauf der vierten Klasse wird Lehrerin Idiskut schwanger, eine Nachfolgerin wird bis drei Tage nach ihrem Abschied in den Mutterschutz nicht gefunden. Ganz nebenbei zeigt der Film die katastrophale personelle Situation im Bildungssektor auf. Als am letzten gemeinsamen Schultag die Tränen bei Kindern und Lehrerin fließen, haben wohl auch manche im Kinosaal feuchte Augen. „Favoriten“ ist ein Film, der ins Herz trifft.
Besonderes Lob zollte Ruth Beckermann nach der Weltpremiere Kameramann Johannes Hammel, mit dem sie schon länger zusammenarbeitet: „Sie können sich ausmalen, welche Arbeit es war, anwesend zu sein, ohne zu stören“, sagte sie. „Er hat die Fähigkeit zu verschwinden, aber nirgends war es so schwierig wie hier.“
Drei bis vier Tage habe man jeweils in der Klasse gedreht und sei nach ein paar Wochen wiedergekommen, drei Jahre lang, zwischen 2020 und 2023. Es habe viele Restriktionen gegeben, etwa, dass spontan zu reagieren war oder die Kinder oft leise sprachen.
Dennoch sind viele Close-Ups gelungen, in denen die Kinder in all ihrer unbefangenen Mimik gezeigt werden und die Ernsthaftigkeit ihrer Überlegungen an ihren Gesichtern abgelesen werden kann.
Von Stefan May