Folletts verstörender Realismus

Zurück in der Gegenwart: Ken Folletts neuer Roman „Never“

Er ist ein Meister darin, sich selbst neu zu erfinden. Der britische Bestsellerautor Ken Follett, seit Jahren Experte für — fiktive — historische Geschichten, kehrt zum Thriller zurück. Und schreibt mit „Never“ erstmals seit 16 Jahren ein Buch, das in der Gegenwart angesiedelt ist. Einer bedrückenden Gegenwart, realistisch und hart, nicht weit entfernt von unserer Realität.

In „Never“ geht es, und darin ist das Buch wohl jedem erschreckend vertraut, um einen Konflikt zwischen Großmächten, der in einen fast unvermeidlichen Krieg zu münden droht. Es geht um Atomwaffen und Zerstörung. Und um die Erkenntnis des Schriftstellers, dass schon der Erste Weltkrieg wohl nur ein „tragischer Unfall“ war. Die Frage ist: Kann so etwas wieder passieren?

Ein knappes Vorwort gibt den Ton von „Never — Die letzte Entscheidung“ vor. Darin heißt es: „Bei meinen Recherchen für ‚Sturz der Titanen‘ (Anm., Folletts erster Teil von „Die Jahrhundert-Saga“ 2010) stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass niemand den Ersten Weltkrieg gewollt hat.“ Keiner der europäischen Staatenlenker habe sich einen solchen Konflikt gewünscht, trotzdem hätten sie „logische, moderate, nachvollziehbare Entscheidungen“ getroffen. Jede davon habe einen kleinen Schritt näher zum „furchtbarsten Konflikt“ geführt, den die Welt je erlebt habe.

In „Never“ steht die Welt am Abgrund, was sich aber erst nach und nach zeigt. Exemplarisch macht der Autor klar, was schiefläuft: Geheimdienstagenten folgen in der Sahara der Spur von Drogenschmugglern — und finden Terroristen sowie Waffen aus China und Nordkorea. Sie riskieren ihr Leben, um die Terrorcamps aufzuspüren und zu zerstören. Gleichzeitig macht sich eine junge Witwe mit Hilfe von Schleusern auf den Weg nach Europa. In China kämpft ein hoher Regierungsbeamter gegen kommunistische Hardliner. Er befürchtet, dass die Kriegstreiberei seiner Widersacher das Land auf einen gefährlichen Weg führt.

Die Gewaltspirale

Die USA haben ihre erste Präsidentin, Pauline Green, die ihre Präsidentschaftswahl „als Gegenreaktion zu Inkompetenz und Rassismus gewonnen“ habe. Das weckt Erinnerungen an die Ära Trump. Green will alles tun, um zu verhindern, dass die USA in einen unnötigen Krieg eintreten müssen. Doch was, wenn aus Gewalt immer wieder nur neue Gewalt erwächst?

In den 1980er-Jahren war die Angst vor einem Atomkrieg für die meisten Menschen allgegenwärtig. Follett erweckt die angstvollen Gefühle von damals zu neuem, bedrückendem Leben. Sicher, die Sprache ist schlicht und einfach, aber es ist brillant, wie er die unzähligen Handlungsfäden unbeirrbar in der Hand behält. Auch verleiht er den Figuren Leben, wenn etwa die US-Präsidentin sich darum sorgt, ob sie ihrer Tochter genug Aufmerksamkeit schenkt. Und doch scheint es, als habe sich Follett etwas viel vorgenommen, manche Passage wirkt im Vergleich mit anderen blutleer. Meist aber ist es spannend und atemberaubend, was der Autor an Ereignissen sich entwickeln lässt. Ein verstörender Realismus.

Thomas Strünkelnberg

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