Geknebelter Widerstand in Russland

arte-Stream: „Gefangen in Putins Russland“ über den Fall Anya Pavlikova

Tochter Anya (re.) wurde jahrelang von der Obrigkeit drangsaliert. Mutter Yulia versuchte, dagegen eine – allerdings nur bedingt vorhandene – Öffentlichkeit zu mobilisieren.
Tochter Anya (re.) wurde jahrelang von der Obrigkeit drangsaliert. Mutter Yulia versuchte, dagegen eine – allerdings nur bedingt vorhandene – Öffentlichkeit zu mobilisieren. © ZDF

Russland war schon vor dem 24. Februar 2022, dem ersten Tag des Angriffskrieges gegen die Ukraine, ein problematischer Staat. Ein Staat, der schon länger „Krieg nach innen“ führte, wie Anna Shishova, Dokumentarfilmerin aus Moskau, sagt.

Shishovas „Gefangen in Putins Russland. Teenager als Staatsfeinde“ (ZDF 2022) ist bis 29. Jänner 2023 im Stream des Kultursenders arte zu sehen. Die bewegende, ausgezeichnete Filmdokumentation rollt den Fall der Anya Pavlikova auf. Die damals 17-jährige Teenagerin wurde in der Nacht zum 15. März 2018 aus der Wohnung ihrer Eltern in Moskau geholt.

Männer mit Masken und Maschinengewehren hätten die Wohnung gestürmt, berichtet die Mutter. Anya, die Biologie studieren wollte, hatte einer Telegram-Gruppe angehört, die sich bald physisch traf und über alle möglichen Themen redete. Am Treffpunkt waren Überwachungskameras installiert, ein Ruslan D. ermunterte die Gruppe zu politischen Aktionen. Die Gruppe flog nach einer Anzeige D.s auf, der Fall ging 2018 durch alle russischen Medien. Die Gruppe zählte 13 Mitglieder, wie sich später herausstellte, waren drei davon Mitarbeiter der Geheimdienste.

Schläge, Folter mit Strom

„Mütter für Freiheit“ nennt sich eine Gruppe von Frauen, deren Kinder hinter russischen Gittern, in Lagern verschwanden. Eine Mutter erzähltunter Tränen: „Wessen wird mein Sohn beschuldigt? Er ist schuldig, zu einem ehrlichen, freundlichen und anständigen Menschen herangewachsen zu sein.“ Grundlage für lange Inhaftierungen sind sogenannte „Geständnisse“. Die Frauen berichten von Schlägen, von Folter. Eine Mutter erläutert die „Dynamomaschine“: elektrische Drähte an Fingern und Zehen.

Bestehende Widerstandsgruppen zu infiltrieren ist in Russland Usus. Ein solcher Fall wie der von Anya Pavlikova, gezielt Widerstand zu „erzeugen“, war 2018 neu. Das Video vom „Geständnis“ eines vermeintlichen Rädelsführers ist zu sehen. Das Gesicht erschöpft, gezeichnet von Schlägen. Dazu die Information, dass ihm ein Fleischklopfer in den Anus geführt wurde. Das Motiv solcher Aktionen, das Zeigen von Gewalt, hat ein Ziel: ein Klima der Angst zu schaffen.

Anya Pavlikova kommt nach fünf Monaten U-Haft in Hausarrest, ist schwer gezeichnet: „Du wirst verrückt“, sagt sie, „weil da drin (im Gefängnis, Anm.) alles ganz anders läuft“. Der Menschenrechtsaktivist Kostya, der Anya die ganze Zeit über beigestanden war, wird verhaftet und zu vier Jahren verurteilt. Anya und er heiraten im Gefängnis. Parallel zum Fall Anya zieht das Regime Putin in Russland die Daumenschrauben an. Zu sehen ein Protest 2019 in Moskau, die Sicherheitskräfte prügeln hemmungslos.

Im August 2020 wurden alle Mitglieder von Anya Pavlinkovas Gruppe schuldig gesprochen. Anya bekam vier Jahre Hausarrest. Männliche Mitglieder erhielten jahrelange Haftstrafen. Ruslan D. wurde nie angeklagt.

Von Christian Pichler

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