Jubel um Holzingers „Sancta“ bei den Wiener Festwochen

„Sancta“ bei den Wiener Festwochen: Holzingers neuer Streich © APA/APA / Wiener Festwochen/Nicole Marianna Wytyczak

Die einen spielen Revolution, die anderen machen sie. Den Unterschied zwischen Schein und Sein hat die österreichische Regisseurin, Choreografin und Performerin Florentina Holzinger am Montagabend bei den Wiener Festwochen in Großbuchstaben buchstabiert. Sie zeigte mit ihrer Truppe in jeder Hinsicht volles Risiko, inklusive eigenes Fleisch und Blut. Ihre von Paul Hindemiths kurzem Opern-Einakter „Sancta Susanna“ ausgehende Produktion „Sancta“ wurde am Ende zu Recht gefeiert.

Als die erste Operninszenierung der gehypten Tanz- und Theaterfrau war die Festwochen-Koproduktion, die vor wenigen Tagen in Schwerin Premiere hatte, angekündigt worden. Tatsächlich scheint sich Holzinger zunächst mit einigen ausgezeichneten Sängerinnen und dem als Nonnen kostümierten weiblichen Teil des Opernchors des Mecklenburgischen Staatstheater ganz auf Hindemiths Geschichte der Nonne Susanna (gesungen von Cornelia Zink), deren Sexualität diszipliniert wird, einzulassen. Doch ein Roboterarm, der im Laufe des Abends u.a. Kerze, Kreuz und Kelch tragen, aber auch als Kanzel dienen wird, die Rampen einer Halfpipe und ein grob gemauertes Verlies lassen ahnen, dass es nicht lange dabei bleiben wird. Und schon bald erobern sich nackte Performerinnen die Bühne und beginnen spinnenartig die rückwärtige Kletterwand zu erklimmen. Bis zum ersten intensiven Befreiungsschrei dauert es dann nicht mehr lange.

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Holzinger hat für diese über zweieinhalb pausenlosen Stunden nicht nur alle ihre Kräfte gebündelt und dabei ungeheuere Energie entfesselt, sondern ist bedacht und strategisch vorgegangen: Die österreichische Komponistin Johanna Doderer wurde ebenso wie die Produzentin Born in Flamez und der Musiker und Komponist Stefan Schneider mit weiterführenden Kompositionen beauftragt, sodass die Mecklenburgische Staatskapelle Schwerin unter der Stabführung von Marit Strindlund behände zwischen Oper und Kirchenmusik, Elektronik, Rave und Musical wechselt. Obwohl der Abend mit dem gemeinsam mit dem Publikum gesungenen programmatischen „Don’t dream it, be it“ aus der „Rocky Horror Picture Show“ endet, gleicht er immer wieder einer radikalfeministischen Version von „Jesus Christ Superstar“.

„Sancta“ betreibt radikale Rollenumkehr und zahlt der katholischen Kirche über 2.000 Jahre Lustfeindlichkeit und Frauenunterdrückung heim. Dass sich dabei Radikalität im Denken wie im Körpereinsatz mit szenischer Fantasie, aber auch mit Witz und Selbstironie verbinden, macht den Abend zur großen Show, die immer wieder überrumpelt und zwingt, auch seine eigenen Grenzen des Hinschauens auszuloten. Wird man nicht unweigerlich zum Voyeur, wenn man Frauen beim lustbetonten Umgang miteinander zuschaut? Will man dabei zusehen, wenn das Skalpell gezückt wird, um einer der Akteurinnen in Großaufnahme ein Stück Fleisch herauszuschneiden, um es anschließend zu braten und beim letzten Abendmahl zu verzehren?

„Nehmet und esset alle davon. (…) Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.“ Holzinger nimmt das, was in der Kirche gepredigt wird, wörtlich. Erstaunlich, dass sie auf das Blut Christi verzichtet – schließlich wurde in einer ihrer früheren Produktionen schon mal live auf der Bühne Blut abgenommen. Diesmal gibt es dafür u.a. eine wundersame Weinvermehrung – und die Wiederholung einer schon in „TANZ“ (2019) eingebauten Stunt-Einlage, bei der Metallhaken durch die Rückenhaut gestochen und Performerinnen daran aufgehängt werden. Diesmal tritt die Chefin gemeinsam mit einer Kollegin selbst zu der mentalen und körperlichen Belastungsprobe an – und gibt später bei der Verbeugung ihre blutige Rückseite preis.

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Die Aufführung ist voller Wut und voller Bilder – vom Rollschuhballett über eine schwebend gehaltene Predigt von Saioa Alvarez Ruiz (für ihre Rolle in „Ophelia’s Got Talent“ im Vorjahr mit einem Nestroy-Preis bedacht) als erste lesbische Päpstin bis zum Niederreißen der Sixtinischen Kapelle mit dem weltberühmten Schöpfungsbild durch einen Trupp in der Wand hängender Arbeiterinnen. Bei Holzinger bleibt kein Stein auf dem anderen. Das ist nicht der Untergang des Abendlandes, sondern bloß ein Zurechtrücken der Perspektiven. Die Frage, ob man die Art, wie man sich hier an der katholischen Kirche rächt, auch bei anderen Religionsgemeinschaften so freizügig umsetzen könnte, ist wohl kaum zu bejahen – soll aber nichts relativieren. Die szenische Drastik entsteht nicht aus Lust an der Blasphemie, sondern aus einem Akt der späten Notwehr nach einer endlosen Zeit struktureller Unterdrückung.

„Sancta“ ist zweifellos einer der Höhepunkte der diesjährigen Wiener Festwochen – und noch vier Mal in der Halle E im Museumsquartier zu sehen.

(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)

„Sancta“, Regie, Choreografie, Performance: Florentina Holzinger, Musikalische Leitung: Marit Strindlund, Halle E im Museumsquartier. Noch am 11., 13., 14. und 15. Juni, 19.30 Uhr, festwochen.at

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