„Kinder, die keinen Grabstein haben“

Die Nazis richteten 1943 in Spital am Pyhrn das erste Fremdvölkische Kinderheim ein

Betreuerinnen des Heimes © StudienVerlag, Martin Kranzl-Greinecker

In Spital am Pyhrn wurde am 27. März 1943, also vor genau 80 Jahren, von den Nazis das erste „fremdvölkische“ Kinderheim im Deutschen Reich eingerichtet. Ein leerstehendes Gasthaus wurde zu einem grausamen und vielfach tödlichen Ort für Säuglinge von Zwangsarbeiterinnen, die diesen gleich nach der Geburt entrissen worden waren

Die Linzer Soziologin und historische Sozialforscherin Maria Prieler-Woldan legt nun nach intensiver Forschungsarbeit die Publikation „Vielleicht hätte ich eine Familie. Vielleicht hat jemand um mich geweint. Das ‚fremdvölkische‘ Kinderheim in Spital am Pyhrn 1943–1945“ (StudienVerlag, 184 Seiten, € 26,90) über das bisher noch wenig bekannte und untersuchte dunkle Kapitel der Geschichte vor.

„Die Zeitgeschichte des Nationalsozialismus hat noch viele blinde Flecken, gerade auch, was Frauen betrifft“, sagt die Autorin im VOLKSBLATT-Gespräch. Es sei nicht selbstverständlich, hinzuschauen und wichtig, wahrzunehmen: „Darum dieses Buch.“

Das schwere Schicksal von Zwangsarbeiterinnen

Es waren vorwiegend Frauen aus Polen, der Ukraine und der Sowjetunion — von den Nazis als „Untermenschen“ betrachtet —, die im Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat zwangsweise ins Deutsche Reich verbracht wurden, wo sie hart arbeiten mussten. Wurden diese Frauen schwanger — und das geschah vielfach nach Vergewaltigungen — so zwang man sie zur Abtreibung oder nahm ihnen ihre Kinder, die sie in Linz in einer Baracke neben der Frauenklinik unter widrigsten Umständen zur Welt bringen mussten, sofort weg.

Die Wahl der Unterbringung der Kinder fiel Ende März 1943 auf Spital am Pyhrn — bewusst in großer Entfernung zu Linz, so dass die Mütter keine Möglichkeit mehr hatten, ihren Nachwuchs zu sehen. Prieler-Woldan hat in den Archiven die Namen von 106 Kindern gefunden, die in Spital untergebracht waren. Die schreckliche Bilanz: 47 der Kinder starben, davon 28 in Krankenhäusern in Kirchdorf und Steyr, wohin man sie kurz zuvor verlegt hatte. „Ich wollte diesen Kindern nachgehen, die keinen Grabstein haben.“ Eine Geschichte, die nie aufgearbeitet worden sei, Verbrechen an den Frauen und Kindern nie geahndet.

„Nach drei Monaten starben die ersten Säuglinge“

In Spital am Pyhrn wurde ein Verwalter für das Heim eingesetzt, zwei einheimische Betreuerinnen und zwei junge Zwangsarbeiterinnen zum Putzen und Waschen. „Es gab keinen Heimarzt und kein Fachpersonal“, so Prieler-Woldan. Die Kinder seien vernachlässigt worden, es gab kaum Nahrung für sie — ein halber Liter Milch und eineinhalb Stück Würfelzucker am Tag. Anfangs waren insgesamt 40 Säuglinge untergebracht, später bis zu 60 gleichzeitig. „Nach drei Monaten starben die ersten Kinder.“

Belegen konnte Prieler-Woldan auch, dass der NS-kritische Pfarrer, der Totengräber und ein Gemeindebediensteter über die Situation im Kinderheim Bescheid wussten. „Aber das blieb wohl den meisten im Ort nicht verborgen.“ Fakt sei jedenfalls, dass die Nazis Gemeinden durchkämmten, um Zwangsarbeiterinnen bei Bauern ihre Kinder abzunehmen. „Man wurde aber nicht aller habhaft“, so Prieler-Woldan. Es habe in der Bevölkerung auch Menschen gegeben, die den Frauen geholfen hätten.

Spital war das erste „fremdvölkische“ Kinderheim im Deutschen Reich, reger Schriftverkehr zwischen Linz und Berlin kündet davon, wie man sich über dessen „Funktionieren“ austauschte. Der Linzer Franz Langoth war als Leiter der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NVA) zuständig, der Gauleiter von Oberdonau, August Eigruber, förderte das Vorgehen. Man beriet darüber, ob es nicht besser wäre, die Kinder einfach verhungern zu lassen, sie gleich zu töten oder ob man sie besser ernähren sollte, um die nächste Generation an Zwangsarbeitern heranzuziehen. Nach Spital entstanden weitere „fremdvölkische“ Kinderheime, rund 300 im gesamten Deutschen Reich. Ein gutes Dutzend befand sich in Oberdonau (inklusive Tschechien), etwa im Schloss Etzelsdorf in Pichl bei Wels, in Utzenaich oder Ranshofen. Bei einigen Standorten sollte es angesichts des Kriegsverlaufes bei der Planung bleiben.

Die Voest in Linz verweigerte die Einrichtung eines solchen Kinderheimes. Die Zwangsarbeiterinnen, die dort schuften mussten, betreuten ihre Kinder abwechselnd selbst, konnten auf sie „aufpassen, sie lieben, versorgen“, wie die Autorin sagt.

Das Vorrücken der Russen bescherte der Anstalt in Spital schließlich Anfang 1945 ein abruptes Ende: Die Nazis ließen die Goldreserven der ungarischen Nationalbank ins südliche Oberösterreich bringen, wo man es in der Krypta der Stiftskirche von Spital am Pyhrn lagerte. Die Ungarn, die die 66 Waggons mit dem wertvollen Gut begleitet hatten, mussten im Ort untergebracht werden — das Kinderheim wurden geräumt, die Säuglinge in anderen „fremdvölkischen“ Kinderheimen untergebracht.

Überlebende kommen zu jährlichen Gedenkfeiern

Prieler-Woldan hat mit drei ehemaligen Heimkindern Interviews geführt. Die Überlebenden wurden ihren Müttern zurück- oder zur Adoption freigegeben. „Sie haben keine Erinnerungen an das Kinderheim, das Geschehene belastet sie freilich ihr Leben lang“, so die Historikerin. Seit 2014 weisen zwei Gedenktafeln in Spital am Pyhrn auf das Geschehene hin, die Theologin Susanne Lammer, die mit Prieler-Woldan für das Buch zusammengearbeitet hat, veranstaltet jährliche Gedenkfeiern, zu denen auch ehemalige Heimkinder nach Österreich kommen.

Buchpräsentationen: 20.4. Kirchdorf/Kr.; 25.4. Zeitgeschichte-Museum Voest; 5.5. Gasthaus Grundner, Windischgarsten; 20.6. Kulturverein Sternberg Viechtwang; 9.10. Haus der Frau Linz

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