Kornmüller inszeniert „Das große Heft“ im Odeon famos

Eindringliche Interpretation von Ágota Kristófs Roman © APA/Odeon/Victoria Nazarova

Überleben im Krieg durch radikale Abhärtung: Mit ihrem Roman „Das große Heft“ hat Ágota Kristóf 1986 einen Stoff geschaffen, der nicht umsonst immer wieder für die Bühne adaptiert und 2013 unter österreichischer Beteiligung verfilmt wurde. Nun hat sich Jacqueline Kornmüller im Wiener Odeon der Geschichte rund um die jungen Zwillingsbuben gewidmet. Dabei gelingt ihr ein aufrüttelnder, an die Substanz gehender Theaterabend rund um Gewalt und Missbrauch in Zeiten des Krieges.

Es raucht aus dem Schornstein der kleinen Wellblechhütte, in der die von den Dorfbewohnern nur als „die Hexe“ titulierte alte Frau wohnt. Ihr Einsiedlerdasein wird jäh unterbrochen, als ihre Tochter mitten in den Kriegswirren auftaucht, um ihre Zwillinge auf dem Land versorgt zu wissen – und dann wieder verschwindet. Ein tiefgreifender Wendepunkt im Leben der beiden Buben, der sie aus ihrem bisher behüteten Leben brutal herausreißt. Denn fortan gilt es, sich abzuhärten, um in dieser emotional rauen Umgebung zu überleben. Ihren Weg dorthin protokollieren sie in dem titelgebenden „Großen Heft“.

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Kornmüller und ihr Partner Peter Wolf, der in der Rolle der grobschlächtigen Großmutter brilliert, haben sich als Gruppe „wenn es soweit ist“ vor allem mit Museums-Bespielungen („Ganymed“) einen internationalen Namen gemacht. Nun bringen sie den Roman der 2011 verstorbenen ungarischen Autorin mit einem internationalen Team famos auf die Bühne. Die beiden neunjährigen Buben werden von dem 1971 in Kuba geborenen Zwillingspaar Mercedes M. Vargas und Miriam M. Vargas mit einer Härte interpretiert, die Schaudern macht. Um unter der Fuchtel der strengen Großmutter und unter den zwielichtigen Dorfbewohnern zu überleben, setzen sie auf Abhärtung durch Hunger, Selbstverletzung und Töten. Auf ihrem Weg zur Unverwundbarkeit treffen sie auf eine stehlende und ihren Körper Menschen wie Tieren hingebende junge Frau, die von allen nur „Hasenscharte“ genannt wird. Manaho Shimokawa verleiht ihrer Figur eine radikale, körperliche Zerbrechlichkeit. Auch die sexuell übergriffige Magd (Laura Schlittke) oder der bedrohliche Adjutant (András Dés) bestärken die Buben nur in ihrer Überzeugung, dass sie niemandem trauen können.

In all der Düsternis des nackten Bühnenraums, der die beeindruckende Innenarchitektur des Odeons zur Geltung bringt, webt das Trio András Dés, Martin Eberle und Peter Rom eine musikalische Kulisse aus Trompetenklängen, E-Gitarrenriffs und Schlagwerkakrobatik, die den alles umgebenden Krieg hörbar macht. Das auf der Bühne drapierte Meer aus unzähligen Militärdecken wird im Verlauf der knapp 90 Minuten zu einem guten Boden, um Leichen zu vergraben. Kornmüller lässt dabei keinen Funken Hoffnung, keine Wärme aufkeimen. Da wird jene kurze Szene, in der die Großmutter einen aus Glitzer bestehenden kleinen Bach auf die Bühne schüttet, zu einem umso stärkeren Bild für eine Welt, die es nicht mehr gibt.

In Zeiten, in denen Vernichtung und Verschleppung, Mitläufertum und Machtdemonstration wieder erschreckend eng an Europa gerückt sind, ist Kristófs Antikriegsroman wieder einmal der Stoff der Stunde. Mit ihrer Interpretation erzählt Kornmüller eine beklemmende Geschichte, die alles andere als in der Vergangenheit verortet daherkommt. Ein starker, intimer und unaufdringlich durchkomponierter Abend, der mit lang anhaltendem Applaus gewürdigt wurde.

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(Von Sonja Harter/APA)

„Das große Heft“ von Ágota Kristóf, Koproduktion von Odeon und „wenn es soweit ist“. Regie: Jacqueline Kornmüller, Produktion: Peter Wolf. Mit u.a. Mercedes Vargas, Miriam Vargas, Peter Wolf, Manaho Shimokawa und David Oberkogler. Musik: András Dés, Martin Eberle und Peter Rom. Weitere Termine: 19., 20., 25., 26. und 27. April sowie am 9., 10., 11. und 15 Mai, jeweils um 19.30 Uhr. odeon-theater.at

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