Der jüngste Roman von Virginie Despentes auf der Bühne des Wiener Volkstheaters? Dagegen kann man nichts haben, denn ein zeitgenössisches und politisches Theater muss sich mit dem auseinandersetzen, was die ebenso provokante wie relevante französische Autorin und Filmemacherin zu sagen hat. Was Regisseur Stephan Kimmig aus „Liebes Arschloch“ gemacht hat, machte bei der Premiere am Samstag dennoch nicht recht glücklich.
An mangelnden Themen liegt es nicht. Es geht um #metoo und um Corona, um Feminismus und Patriarchat, um Hass im Netz und Alkohol- und Drogenmissbrauch. Despentes bringt das alles in einer zeitgemäßen Form eines Briefromans unter, bei dem sich öffentliche Social-Media-Posts und private Internetbotschaften mischen. Drei Personen sind dabei involviert: der Autor Oscar, die einst von ihm verehrte ältere Schauspielerin Rebecca, die in Oscars Kindheit eine Freundin seiner Schwester war, und die junge Bloggerin Zoé, die im Web öffentlich macht, als Pressesprecherin eines Verlags vor Jahren von Oscar übergriffig bedrängt worden zu sein.
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Was Kimmig nur in Ansätzen gelingt, ist neben den gegenseitigen Beschimpfungen und den inbrünstig vorgetragenen eigenen Positionen auch die Beziehung der Figuren untereinander und vor allem ihre Veränderung nachvollziehbar zu machen. Denn die laut Oscar „heute zu einer Schlampe verkommene“ Schauspielerin („Nicht nur alt. Sie ist auch auseinandergegangen, verlebt, schlechte Haut, ein schmuddeliges, lautes Weibsstück.„), die daraufhin dem “lieben Arschloch“ wünscht, „dass deine Kinder von einem Lastwagen überfahren werden und du ihren Todeskampf mitansehen musst“, entwickelt mit Fortdauer ihres Kontakts so etwas wie Sympathie für ihren Beleidiger, die kämpferische Feministin Zoé landet dafür in der geschlossenen Anstalt. Die seltsamen, ja fragwürdigen Volten des Buches bleiben Behauptungen.
Am darstellerischen Trio liegt es nicht: Birgit Unterweger spielt glaubwürdig den abgeklärten, selbstbewussten und sich doch nach einem Austausch auf Augenhöhe sehnenden Star, Paul Grill den zwischen Wut und Weinerlichkeit pendelnden Waschlappen, der so gern ein ganzer Kerl wäre, aber auch schon zufrieden wäre, als Kamerad akzeptiert zu werden, Irem Gökçen versprüht Enthusiasmus und Energie, die ins Leere zu laufen drohen. Doch in den von Katja Haß auf die Drehbühne gestellten Wohncontainern redet man per Live-Video vor allem aneinander vorbei. Zur Gemeinsamkeit findet man in gelegentlichen Tanzeinlagen, die aber so unmotiviert wirken wie die zu viert (mit Kamerafrau) über die Rampe gebrachte Schlussbotschaft.
Letztlich erzählt diese mit zwei Stunden 40 Minuten (inklusive Pause) um einiges zu lang geratene Theaterfassung von „Liebes Arschloch“ von Virginie Despentes weniger etwas über die drei Hauptfiguren als über die Autorin selbst: blitzgescheit, eloquent, aber vor allem daran interessiert, eigenständiges Denken abseits jedes Mainstreams und jeder Erwartung unter Beweis zu stellen. Anregend, aber nicht überzeugend.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
„Liebes Arschloch“ von Virginie Despentes, aus dem Französischen von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis, Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Hass, Kostüm: Sigi Colpe. Mit Irem Gökçen, Paul Grill, Birgit Unterweger. Live-Kamera: Ulrike Schild. Österreichische Erstaufführung im Volkstheater Wien. Nächste Vorstellungen: 18., 27.9., volkstheater.at