Menschen brauchen Märchen

Uraufführung: „Weck mich auf“ am Balkon des Linzer Theater Phönix

Eine Familie ist dem drohenden Hungertod ausgeliefert. Die Eltern schicken ihre Kinder Hänsel und Gretel in den Wald, um die „unnützen Esser“ loszuwerden.

Ehe einem ob derart hartem Stoff der Atem stockt, legt Marius Zernatto auf der Bühne mit der Ukulele los: Zernatto als Hexe performt Otto Waalkes, der 1983 das berühmte Märchen mit deutschsprachigem Pop vermanschte („Drah di ned um, die Hexe die geht um“ etc.).

Trash trifft auf Tiefsinniges, doch Schauspieler Martin Brunnemann legt in seiner ersten Regiearbeit für das Linzer Theater Phönix den Schwerpunkt eindeutig auf den existenziellen Gehalt der Märchenklassiker von Hans Christian Andersen und der Gebrüder Grimm.

Märchen erzählen davon, wie du durchs Leben kommst. Wie du mit Demütigungen zurechtkommst. Sie erzählen von schier unausrottbaren Konstanten, mit denen sich die Menschheit plagt: Gier, Armut, Hunger, Machtrausch und Versklavung. Sie erzählen von Unterwürfigkeit, Starrsinn, Kleinmut.

Reflektiert & knackig

Uraufführung von „Weck mich auf. Sehr frei nach Grimm und Andersen“ (Text: Brunnemann und Sigrid Blauensteiner) war am Donnerstag im Phönix. Minimalistische Bühne mit zwei Bildschirmen, die den Ort des Geschehens, grollende Könige oder verkniffene Stiefschwestern zeigen. Das Stück ungeheuerlich reflektiert, doch knackig serviert. Saftige Prügeleien, poppiger Gesang, anzügliche Liebeleien. Psychoanalytische Deutungen wie die eines Eugen Drewermann dürften eingeflossen sein, Gut-Böse-Schemata werden zeitgemäß hinterfragt, ebenso verkrustete Geschlechter-Stereotypen. Doch originalgetreu wird ein Märchen von zeitloser Gültigkeit erzählt: Andersens „Des Kaisers neue Kleider“ über Arroganz der Macht, Dummheit und (gewollte) Blindheit der Machtlosen.

Gina Christof und Zernatto sind ein großartig aufeinander eingespieltes Pärchen. Sie gehen brutal aufeinander los, sie sind zarte Liebende, sie tanzen oder lassen als Vortragende alleine die wunderschönen Texte sprechen. Fast übergangslos switchen sie von einem Märchen zum nächsten, bei aller Rasanz klingt ein Nachdenken über die Bedeutung von Märchen an sich an. Ein Nachdenken auch über den Verlust des Geschichtenerzählens durch die in geschichtsloser Gegenwart erstarrte Blasenfabrik Internet.

Andersens „Das Feuerzeug“ (das Wort ursprünglich für jede Art von „Zeug“, um Feuer zu machen) oder das Grimm´sche „Vom Fischer und seiner Frau“ (ursprünglich von einem Philipp Otto Runge) sind große Parabeln auf den wahnhaften Traum von maßloser Wunscherfüllung, der im Internet wiederkehrt. Am Ende leben wir wieder in der klapprigen Hütte, Christof röhrt den Guano-Apes-Klassiker „Open Your Eyes“ ins Mikro. „Don’t pretend to be blind“, tu nicht so, als wärst du blind. Tolle Show, Märchen als Augenöffner. Der heftige Applaus am Balkon des Phönix währte minutenlang. Bis 28. Oktober

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